Dieser Beitrag wurde am 11.11.2019 um die offizielle Klarstellung (siehe unten) aktualisiert.
EN ISO 12100:2010 ist weiterhin als harmonisierte Norm im Amtsblatt der EU gelistet. Hintergründe zur vorübergehenden Verwirrung rund um den am 18.3.2019 erschienenen EU-Durchführungsbeschluss. Im Durchführungsbeschluss 2019/436 der EU-Kommission vom 18. März 2019 über die harmonisierten Normen für Maschinen zur Unterstützung der Richtlinie 2006/42/EG heißt es im Erwägungsgrund Nr. 14:
„Die harmonisierten Normen EN 786:1996+A2:2009; EN 61496-1:2013; EN ISO 11200:2014 und EN ISO 12100:2010 sollten entfernt werden, da sie die von der Richtlinie 2006/42/EG gestellten Anforderungen nicht mehr erfüllen.“
In Art. 2 des Beschlusses heißt es dann:
„Die Fundstellen harmonisierter Normen für Maschinen zur Unterstützung der Richtlinie 2006/42/EG, die im Anhang III dieses Beschlusses aufgeführt sind, werden hiermit zu den in diesem Anhang genannten Zeitpunkten aus dem Amtsblatt der Europäischen Union entfernt.“
Die EN ISO 12100:2010 ist dann aber nicht mehr genannt. Ist die technische Norm nun noch harmonisiert? Was ist die rechtliche Wirkung der Erwägungsgründe (Englisch = recital) in europäischen Rechtsakten? Erwägungsgründe sind wie Präambeln bei Verträgen: sie sind nicht das per Verordnung, Richtlinie oder (wie hier) Beschluss Geltende – ebenso wenig wie eine Vertragspräambel zum Vereinbarten gehört. Aber Erwägungsgründe sind „eine Art Gesetzesbegründung“[1] und können „zur Auslegung beitragen“[2]; in den Erwägungsgründen liegt das „eindeutige Ermittlungsgewicht für den Willen des Normgebers“[3].
Aber wie soll ein Erwägungsgrund bei der Ermittlung und Auslegung des Sinn und Zwecks helfen, wenn im Rechtsakt selbst nichts (oder etwas ganz Anderes) steht?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat immer wieder betont, dass „die Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht“[4].
Damit ist die EN ISO 12100:2010 noch im Amtsblatt gelistet, denn ein Erwägungsgrund kann nicht herbeiführen, was im „geltenden“ Rechtsakt nicht gesagt ist; das „Vorwort“ steht sozusagen im Widerspruch zum „Geltenden“. Der Erwägungsgrund ist ja auch dem Wortlaut nur eine Ankündigung, was geschehen „soll“, dann aber im Durchführungsbeschluss nicht „getan“ worden ist. In anderen Worten: Erwägungsgründe müssen herangezogen werden bei Unklarheiten im Rechtsakt – hier ist aber nichts unklar. Denn in Art. 2 i.V.m. Anhang III des Beschlusses steht die EN ISO 12100:2010 nicht. Inzwischen wurde auch von mehreren Stellen gemeldet, dass es sich bei der Nennung von EN ISO 12100:2010 im Erwägungsgrund 14 um einen redaktionellen Fehler („editorial Error“) handelt.
Die (versehentliche) Nennung von EN ISO 12100:2010 im Erwägungsgrund des oben genannten Dokuments hat keinen Einfluss auf den Status der im Amtsblatt der europäischen Union veröffentlichten Norm.
Im Durchführungsbeschluss 2019/1863 wurde nun klargestellt, dass es sich um einen Fehler handelte - siehe dazu Erwägungsgrund Nr. 7:
In Erwägungsgrund 14 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2019/436 heißt es fälschlicherweise, dass die harmonisierte Norm EN ISO 12100:2010 entfernt werden sollte. Aus Gründen der Klarheit sollte dieser Fehler berichtigt und der Verweis auf die harmonisierte Norm EN ISO 12100:2010 aus diesem Erwägungsgrund gestrichen werden.
Der Durchführungsbeschluss korrigiert dies aber nicht nur in den Erwägungsgründen, sondern eben auch im geltenden Rechtsakt, hier in Artikel 2:
Berichtigung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2019/436 Erwägungsgrund 14 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2019/436 erhält folgende Fassung: „(14) Die Fundstellen der harmonisierten Normen EN 786:1996+A2:2009, EN 61496-1:2013 und EN ISO 11200:2014 sollten aus dem Amtsblatt der Europäischen Union entfernt werden, da sie die von der Richtlinie 2006/42/EG gestellten Anforderungen nicht mehr erfüllen.“
Der Vergleich mit dem oben angeführten Erwägungsgrund Nr. 14 zeigt, dass die fälschlicherweise zur Löschung angeführte EN ISO 12100:2010 in der korrigierten Fassung nun nicht mehr enthalten ist und dementsprechend nach wie vor im Amtsblatt der EU gelistet war und ist.
Fußnoten: [1] Georg Jochum, Europarecht, 3. Aufl. 2018, Rn. 145. [2] EuGH, Urteil vom 13.07.1989 – Rs. 215/88 – Casa Fleischhandel – Rn. 30. [3] Walter Georg Leisner, Die subjektiv-historische Auslegung des Gemeinschaftsrechts: Der „Wille des Gesetzgebers“ in der Judikatur des EuGH, in: Zeitschrift Europarecht (EuR) Heft 6/2007, S. 689, 703. [4] EuGH, Urteil vom 19.6.2014 – Rs. C‑345/13 – Karen Millen Fashions – Rn. 31, EuGH, Urteil vom 24.11.2005 – Rs. C-136/04 – Deutsches Milchkontor – Rn. 32.
Verfasst am: 09.04.2019
Prof. Dr. Thomas Wilrich Tätig rund um die Themen Produktsicherheit, Produkthaftung, Arbeitsschutz und Warenvertrieb einschließlich der entsprechenden Betriebsorganisation, Vertragsgestaltung, Schadensersatz- und Führungskräftehaftung, Versicherungsfragen und Strafverteidigung. Er ist an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits-, Technik- und Unternehmensorganisationsrecht sowie „Recht für Ingenieure“.
E-Mail: info@rechtsanwalt-wilrich.de | www.rechtsanwalt-wilrich.de
Johannes Windeler-Frick, MSc ETH Mitglied der Geschäftsleitung von IBF. Fachreferent CE-Kennzeichnung und Safexpert. Vorträge, Podcasts und Publikationen zu unterschiedlichen CE-Themen, insbesondere CE-Organisation und effizientes CE-Management. Leitung der Weiterentwicklung des Softwaresystems Safexpert. Studium der Elektrotechnik an der ETH Zürich (MSc) im Schwerpunkt Energietechnik sowie Vertiefung im Bereich von Werkzeugmaschinen.
E-Mail: johannes.windeler-frick@ibf-solutions.com | www.ibf-solutions.com
Buchtipp: Thomas Wilrich: Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab: Mit 33 Gerichtsurteilen zu anerkannten Regeln und Stand der Technik, Produktsicherheitsrecht und Verkehrssicherungspflichten, Berlin, 2017
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