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Am 18.11.2024 wurde die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie 2024/2853 (im Folgenden „ProdHaftRL“) im EU-Amtsblatt veröffentlicht und tritt am 9.12.2024 in Kraft. Die EU-Mitgliedstaaten haben nun bis zum 9.12.2026 Zeit, die neuen Vorschriften zur Produkthaftung in nationales Recht umzusetzen. Die bisherige Richtlinie 85/374/EWG wird mit Wirkung vom 9. Dezember 2026 aufgehoben.
Unverändert wird das europäische Produkthaftungsrecht auf dem für die Industrie strengen Grundsatz der verschuldensunabhängigen Haftung (sog. Gefährdungshaftung) beruhen, der in der Bundesrepublik Deutschland von der verschuldensabhängigen Haftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB (sog. Produzentenhaftung) flankiert wird. Die Produzentenhaftung ist dabei vor allem für den sog. Nachmarkt relevant, da sich das europäische Produkthaftungsrecht weder jetzt noch in Zukunft mit dem Zeitraum nach dem Inverkehrbringen unter dem Aspekt der Gefahrabwendung im Feld befassen wird.
Im Folgenden soll ein Ausblick auf das neue europäische Produkthaftungsrecht gegeben werden.
Praktisch besonders wichtig sind die Daten für Inkrafttreten und Umsetzung der EU-Produkthaftungsrichtlinie. Insoweit sind die Artt. 22 f. ProdHaftRL maßgeblich. Während die Richtlinie 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft treten soll (Art. 23), sollen wiederum die nationalen Transformationsakte 24 Monate nach Inkrafttreten der Richtlinie erlassen und in Kraft sein. Die Umsetzungsfrist wurde daher mit Blick auf die ursprünglich geplanten 12 Monate um ein weiteres Jahr und damit spürbar ausgeweitet. Die EU-Mitgliedstaaten müssen im Rahmen der nationalen Transformation ausdrücklich auf die ProdHaftRL Bezug nehmen (Art. 22 Abs. 1).
Zugleich wird die alte EG-Produkthaftungsrichtlinie (Richtlinie 85/374/EWG) aufgehoben. Sie gilt allerdings weiterhin für all jene Produkte, die vor dem betreffenden Zeitpunkt in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, Art. 21 Abs. 1 ProdHaftRL.
Mit der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie sollen mehrere Zwecke verfolgt werden. Im Einzelnen zielt der Vorschlag darauf ab,
Gerade die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen wird in der finalen Fassung der EU-Produkthaftungsrichtlinie stärker als bislang betont. Der zuerst genannte Punkt wiederum gewinnt Bedeutung mit Blick auf aktuell wieder verstärkt geführte Diskussionen über die Online-Plattformen wie z.B. Temu, Shein, Wish oder Alibaba, wenn und weil zahlreiche gefährliche Produkte Gegenstand von über solche Plattformen abgewickelten Kaufprozessen sind und anschließend auf den europäischen Binnenmarkt gelangen.
Im Ergebnis ist es bei einem weiten Produktbegriff in der EU-Produkthaftungsrichtlinie geblieben. Der Richtliniengeber zielt auf umfassende Produkthaftungsregelungen in der EU ab. Verankert ist die Produktdefinition in Art. 4 Nr. 1 ProdHaftRL. Danach bezeichnet Produkt zwar weiterhin alle beweglichen Sachen, auch wenn diese in eine andere bewegliche oder unbewegliche Sache integriert oder mit ihnen verbunden sind, Art. 4 Nr. 1 HS. 1 ProdHaftRL. Neu ist aber, dass dazu nunmehr nicht mehr nur Elektrizität zählen soll, sondern auch digitale Konstruktionsunterlagen, Rohstoffe und Software, Art. 4 Nr. 1 Hs. 1 ProdHaftRL. Eine digitale Konstruktionsunterlage bezeichnet gemäß Art. 4 Nr. 2 ProdHaftRL eine digitale Version einer beweglichen Sache oder eine digitale Vorlage dafür, welche die für die Herstellung eines Gegenstands erforderlichen funktionalen Informationen enthält. Eine digitale Konstruktionsunterlage ist also die Grundlage für die Herstellung eines materiellen Gegenstands, indem sie die automatische Steuerung von Maschinen oder Werkzeugen (z.B. Fräsmaschinen) ermöglicht. Relevant sind in diesem Zusammenhang zudem 3-D-Drucker.
Besonders wichtig ist sicherlich die von Beginn des Gesetzgebungsverfahrens an bezweckte Klarstellung bezüglich der Software. Damit werden seit Langem geführte Diskussionen um die produkthaftungsrechtliche Relevanz von Software beendet. Erfasste Software können Betriebssysteme, Firmware, Computerprogramme, Anwendungen oder KI-Systeme sein. Dabei spielt weder die Art der Bereitstellung noch ihre Nutzung eine Rolle, d.h. es kommt nicht darauf an, ob Software als eigenständiges Produkt in Verkehr gebracht wird, sie über Cloud-Technologien abgerufen oder im Rahmen von Software-as-a-Service-Modellen bereitgestellt wird.
Keine Software in diesem Sinne soll jedoch der Quellcode sein, da es sich insoweit um reine Informationen handele. Rechtlich verankert ist diese Ausnahme, die übrigens nur greift, wenn die Software außerhalb einer Geschäftstätigkeit entwickelt oder bereitgestellt wird, in Art. 2 Abs. 2 ProdHaftRL. Deutlich als zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens wird in den Erwägungsgründen darauf hingewiesen, dass Informationen kein Gegenstand des europäischen Produkthaftungsrecht sein sollen.
Auch wenn das Inverkehrbringen (mit Blick etwa auf Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) ProdHaftRL) nach wie vor den maßgeblichen Zeitpunkt markiert, ab dem eine Produkthaftung grundsätzlich in Betracht kommt, darf in diesem Zusammenhang das neue Kriterium in Art. 7 Abs. 2 Buchst. e) ProdHaftRL nicht übersehen werden. Dort werden nunmehr die für die Bestimmung der Fehlerhaftigkeit eines Produkts maßgeblichen Kriterien benannt. Derzeit sind diese noch in Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 85/374/EWG bzw. in § 3 Abs. 1 ProdHaftG aufgeführt. Was das betreffende Kriterium in Buchst. e) anbelangt, wird nun auf den Zeitpunkt abgestellt, „zu dem das Produkt in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen wurde, oder, wenn der Hersteller nach diesem Zeitpunkt die Kontrolle über das Produkt behält,“ den Zeitpunkt, „in dem das Produkt die Kontrolle des Herstellers verlassen hat.“
Daraus folgt, dass ein Produktfehler auch dann bejaht werden kann, wenn das Produkt beim Inverkehrbringen selbst noch fehlerfrei war. Voraussetzung für die zeitlich verlängerte Haftung ist die fortbestehende Kontrolle über das Produkt. Der maßgebliche Zeitpunkt ist in diesem Szenario jener Moment, ab dem diese Kontrolle endet. Die fortdauernde Haftung ist danach die Kehrseite der Produktkontrolle. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es in Zukunft weitaus mehr Umstände gibt, die im Rahmen der Prüfung der Fehlerhaftigkeit eines Produkts zu berücksichtigen sind. Im entsprechenden Katalog des Art. 7 Abs. 2 ProdHaftRL werden etwa auch Aspekte wie die künstliche Intelligenz (KI; Buchst. c)), Kombinationsrisiken (Buchst. d)) oder von zuständigen Behörden angeordnete Rückrufe (Buchst. g)) für relevant erachtet.
Die Kontrolle des Herstellers spielt folgerichtig auch bei den Haftungsausschlüssen in Art. 11 ProdHaftRL eine Rolle. Dies gilt etwa für den nach wie vor anerkannten Entwicklungsfehler, bei dem nunmehr auch auf den Zeitpunkt der Inbetriebnahme und den Zeitraum der Produktkontrolle durch den Hersteller abgestellt wird (Abs. 1 Buchst. e)). Und es gilt auch für den Haftungsausschluss bezüglich jener Fehler, die insbesondere beim Inverkehrbringen wahrscheinlich noch nicht bestanden oder erst später entstanden; denn wenn der Hersteller weiterhin die Kontrolle über das Produkt hat, kann er sich auf diesen Ausschluss z.B. nicht berufen, wenn Software-Updates oder Upgrades fehlen, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit erforderlich sind (Abs. 2 Buchst. c)). Die Bedeutung von Sicherheitsupdates wird vor diesem Hintergrund signifikant steigen.
Schließlich spielt zukünftig eindeutig auch die Inbetriebnahme gemäß Art. 4 Nr. 9 ProdHaftRL und damit die Eigenherstellung von Produkten eine produkthaftungsrechtlich relevante Rolle.
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Von herausragender Bedeutung ist die aktualisierte Regelung in Art. 8 ProdHaftRL. Dort werden nun „Für fehlerhafte Produkte haftende Wirtschaftsakteure“ zusammengefasst. Derzeit haftet gemäß den Artt. 1, 3 Richtlinie 85/374/EWG bekanntlich in erster Linie nur der Hersteller, wobei dazu auch der sog. Quasi-Hersteller rechnet. Der Importeur wiederum haftet gemäß Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 85/374/EWG wie ein Hersteller. Nur subsidiär haftet hingegen der Lieferant gemäß Art. 3 Abs. 3 Richtlinie 85/374/EWG. Er haftet nur dann, wenn der Hersteller nicht festgestellt werden kann und er dem Geschädigten nicht innerhalb angemessener Zeit den Hersteller oder seinen Lieferanten nennen kann, Art. 3 Abs. 3 S. 1 Richtlinie 85/374/EWG. In der Bundesrepublik Deutschland hat der Lieferant für die betreffende Information nach Zugang der Aufforderung durch den Geschädigten immerhin vier Wochen Zeit, § 4 Abs. 3 S. 1 ProdHaftG.
Neu ist, dass zukünftig auch die folgenden Akteure haften sollen:
Die vier in Art. 8 Abs. 1 ProdHaftRL genannten Akteure Hersteller, Importeur, Bevollmächtigter und Fulfilment-Dienstleister werden zum einen klar von den nachrangig haftenden Lieferanten und Anbietern einer Online-Plattform abgegrenzt, die erst im Anschluss an den Abs. 1 in den Fokus des Interesses gerückt werden. Zum anderen findet auch eine Abgrenzung zu jener Person statt, die ein Produkt wesentlich verändert.
Der Händler, der als Lieferant bezeichnet wird, bleibt subsidiär haftbar. Er haftet nunmehr erst dann, wenn weder Hersteller und Importeur noch Bevollmächtigter und Fulfilment-Dienstleister gemäß Art. 8 Abs. 1 ProdHaftRL mit Sitz in der EU ermittelt werden können, Art. 8 Abs. 3 ProdHaftRL. Selbst wenn alle genannten Akteure nicht vorhanden sind, kann sich der Händler „enthaften“, wenn er innerhalb eines Monats nach Eingang der Aufforderung durch den Geschädigten, einen EU-Wirtschaftsakteur gemäß Art. 8 Abs. 1 ProdHaftRL zu nennen, den Wirtschaftsakteur gemäß Art. 8 Abs. 1 ProdHaftRL oder seinen eigenen Lieferanten benennt. Bemerkenswert ist, dass der Lieferant noch nach dem Fulfilment-Dienstleister haften soll.
Die Anbieter einer Online-Plattform, die es Verbrauchern ermöglichen, Fernabsatzverträge mit Unternehmern abzuschließen, wiederum werden den Händlern gleichgestellt, Art. 8 Abs. 4 ProdHaftRL. Danach kommen zwar auch sie als potenzielle Haftungsadressaten in Betracht; de facto werden sie sich aber (wie die Lieferanten) problemlos „enthaften“ können.
Keine Neuerung geht demgegenüber mit Art. 8 Abs. 2 ProdHaftRL einher; denn wer ein Produkt wesentlich verändert bzw. ändert, wird richtigerweise schon derzeit zum Hersteller. Produkthaftungsrechtlich ist insoweit etwa von der Beeinflussung von Sicherheitseigenschaften die Rede, die eine solche Rechtsfolge nach sich ziehen soll. Eine wesentliche Veränderung im Sinne des Produktsicherheitsrechts ist fraglos eine solche Beeinflussung von Sicherheitseigenschaften, Art. 4 Nr. 18 Buchst. a) ProdHaftRL.
Erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde schließlich ein neuer Art. 8 Abs. 5 ProdHaftRL aus der Taufe gehoben. Die Norm befasst sich mit dem Fall, dass ein Geschädigter keinen Schadensersatz erlangen kann, weil insbesondere keiner der genannten Akteure aus Art. 8 Abs. 1-4 ProdHaftRL haftbar gemacht werden kann oder weil sie insolvent sind. In diesem Szenario können die EU-Mitgliedstaaten bestehende nationale Entschädigungsregelungen nutzen oder neue Entschädigungsregelungen einrichten, um für eine angemessene Entschädigung zu sorgen. Öffentliche Mittel sollen zu diesem Zweck freilich nicht vorrangig eingesetzt werden.
Relevant sind auch die Änderungen in Bezug auf den ersatzfähigen Schaden. Erstens gibt es derzeit nicht nur die Möglichkeit in den EU-Mitgliedstaaten, „die Gesamthaftung des Herstellers für Schäden infolge von Tod oder Körperverletzungen, die durch gleiche Artikel mit demselben Fehler verursacht wurden, auf einen Betrag von nicht weniger als 70 Millionen ECU“ zu begrenzen, Art. 16 Abs. 1 Richtlinie 85/374/EWG. Daneben gibt es die Selbstbeteiligung im Falle einer Sachbeschädigung i.H.v. 500 ECU, Art. 9 Buchst. b) Richtlinie 85/374/EWG. In Deutschland gilt entsprechend ein Haftungshöchstbetrag i.H.v. EUR 85 Millionen gemäß § 10 Abs. 1 ProdHaftG und eine Selbstbeteiligung bei Sachschäden i.H.v. EUR 500 gemäß § 11 ProdHaftG. Die beiden Einschränkungen, die es im deutschen Produzentenhaftungsrecht gemäß § 823 Abs. 1 BGB im Übrigen nicht gibt, fallen in Zukunft ersatzlos weg.
Zweitens soll es ab dem EU-weiten Geltungsbeginn nicht mehr jene Einschränkung bei Sachschäden geben, wonach beruflich genutzte Sachen generell nicht ersatzfähig sind. Vielmehr sollen nur noch solche Vermögensgegenstände ausgeschlossen werden, „die ausschließlich für berufliche Zwecke genutzt werden“, Art. 6 Abs. 1 Buchst. b) iii) ProdHaftRL.
Drittens soll auch die Zerstörung oder Beschädigung von Daten als Schaden relevant sein, „die nicht ausschließlich für berufliche Zwecke verwendet werden“, Art. 6 Abs. 1 Buchst. c) ProdHaftRL.
Die neuen Regelungen zur Beweislast in Art. 10 ProdHaftRL sind ebenfalls hervorzuheben; denn bislang gibt es schlicht keine Beweiserleichterungen für den Geschädigten bzw. Kläger. Derzeit muss der Geschädigte gemäß Art. 4 Richtlinie 85/374/EWG „den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden“ beweisen. In naher Zukunft gibt es nicht nur neue Vermutungen der Fehlerhaftigkeit in Abs. 2 wie z.B. für den Fall, dass der Kläger nachweist, „dass das Produkt verbindlichen Anforderungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts (…) nicht entspricht“ (Buchst. b)). Damit wird also das zugrunde liegende Produktsicherheitsrecht in Bezug genommen. Hinzu kommt eine spezifische Vermutung der Kausalität zwischen Fehler und Schaden in Abs. 3. Sodann soll ein nationales Gericht von der Fehlerhaftigkeit oder der Kausalität zwischen Fehler und Schaden oder beidem ausgehen, wenn es für den Kläger aufgrund der insbesondere technischen oder wissenschaftlichen Komplexität übermäßig schwierig ist, den entsprechenden Nachweis zu erbringen (Abs. 4). Der Beklagte kann indes jede Vermutung widerlegen, Abs. 5.
Trotz aller Kritik an der von Anfang geplanten Einführung einer Offenlegung von Beweismitteln (sog. disclosure of evidence/documents) hat sich diese Bestimmung bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens in Art. 9 ProdHaftRL behauptet. Konkret sollen die EU-Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Beklagte auf Antrag einer geschädigten Person, die in einem Verfahren vor einem staatlichen Gericht Ersatz des durch ein fehlerhaftes Produkt verursachten Schadens verlangt und die Tatsachen und Belege vorgelegt hat, welche die Plausibilität ihres Schadensersatzanspruchs ausreichend stützen, unter den in Art. 9 ProdHaftRL genannten Bedingungen in seiner Verfügungsgewalt befindliche relevante Beweismittel offenlegen muss, Art. 9 Abs. 1 ProdHaftRL. Gegenstand dieser „Ausforschung“ können z.B. technische Unterlagen mitsamt einer Risikobewertung sein. Dazu, welche Anforderungen an die Plausibilität zu stellen sind, werden sich die zur Entscheidung berufenen (Zivil-)Gerichte äußern müssen.
Mit dieser genuin prozessualen Regelung beschreitet die EU einen bislang kaum bekannten Weg außerhalb der Common Law-Regime mit ihren Disclosure- und Discovery-Verfahren, zumal sie sich produkthaftungsrechtlich bislang auf das materielle Recht beschränkte. Im deutschen Zivilprozessrecht werden in diesem Zusammenhang Erinnerungen an § 142 ZPO wach, der sich allerdings allein auf Urkunden beschränkt und auch den Kläger zur Herausgabe verpflichten kann. Der Schutz vertraulicher Informationen und von Geschäftsgeheimnissen soll im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit bzw. Verhältnismäßigkeit ausdrücklich Berücksichtigung finden, Art. 9 Abs. 3, 4 ProdHaftRL.
Der Grund für die Aufnahme der Offenlegung von Beweismitteln soll in der Informationsasymmetrie liegen, die darin besteht, dass der Geschädigte oftmals nicht wisse, wie ein Produkt hergestellt wurde und wie es funktioniert. Diese Asymmetrie könne sich gerade in technisch oder wissenschaftlich komplexen Fällen negativ zuungunsten des Geschädigten auswirken. Die betreffende Offenlegung soll also just dieses Ungleichgewicht ausbalancieren.
Wichtig ist, dass der Beklagte die Regelung in Art. 10 Abs. 2 Buchst. a) ProdHaftRL kennt; denn danach wird von der Fehlerhaftigkeit des Produkts ausgegangen, wenn er es unterlässt, relevante Beweismittel offenzulegen. Insoweit werden also die neuen Offenlegungspflichten mit den neuen Beweiserleichterungen kombiniert.
Immerhin gibt es auch eine entsprechende Offenlegungspflicht von Beweismitteln des Klägers, wenn dies für Beklagten zwecks Verteidigung gegen eine Schadensersatzklage erforderlich ist. Der Beklagte muss insoweit freilich ausreichend nachweisen, dass er die Beweismittel benötigt.
Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie bringt erhebliche Neuerungen mit sich, die sich gerade in zivilprozessualer Hinsicht auswirken werden. Zu nennen ist insoweit die Einführung von Beweiserleichterungen und die Regelung zur Offenlegung von Beweismitteln. Im Zusammenspiel mit der Verbandsklagen-Richtlinie (Richtlinie (EU) 2020/1828) wird es fraglos zu einem Aufschwung des Produkthaftungsrechts ab dem Geltungsbeginn des neuen europäischen Produkthaftungsrechts kommen. Dessen ungeachtet bleibt das Grundgerüst des Regelungskonzepts unangetastet. Dies gilt namentlich für die Bezugnahme auf die strenge Gefährdungshaftung einerseits und für die relevanten Fehlerkategorien und die insoweit entwickelte Dogmatik z.B. zur Beachtlichkeit des Stands von Wissenschaft und Technik im Bereich der Konstruktion andererseits. Es gilt sodann für die wichtige Ausschlussfrist von zehn Jahren, die gemäß Art. 17 Abs. 1 ProdHaftRL grundsätzlich erhalten bleibt. Art. 17 Abs. 2 ProdHaftRL sieht nur dann grundsätzlich eine Ausschlussfrist von 25 Jahren vor, wenn eine geschädigte Person aufgrund der Latenzzeit einer Körperverletzung nicht in der Lage war, innerhalb von zehn Jahren ein Verfahren einzuleiten. Und es gilt auch für die Verjährungsfrist von drei Jahren ab Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis (Art. 16 ProdHaftRL). Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade mit der Ausweitung der Haftungsadressaten ohne Weiteres ein Paradigmenwechsel im Produkthaftungsrecht eingeläutet wird. Klarer als zuvor schlägt sich das schon lange bestehende Ziel in der finalen EU-Produkthaftungsrichtlinie nieder, dass jeder Geschädigte gegen einen verantwortlichen EU-Akteur Schadensersatz auf der Grundlage der Produkthaftung soll geltend machen können.
Am 18.11.2024 wurde die neue Produkthaftungsrichtlinie (EU) 2024/2853 im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Über folgenden Link können Sie den Volltext der Rechtsvorschrift öffnen und herunterladen:
Richtlinie (EU) 2024/2853 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.Oktober 2024 über die Haftung für fehlerhafte Produkte und zur Aufhebung der Richtlinie 85/374/EWG des Rates
Verfasst am: 10.12.2024 (Letzte Aktualisierung)
Dr. Carsten Schucht Rechtsanwalt Dr. Carsten Schucht ist Partner der Produktkanzlei am Standort Berlin. Er ist spezialisiert auf die Beratung in den Bereichen des Produktsicherheits-, Produkthaftungs- und Arbeitsschutzrechts.
E-Mail: schucht@produktkanzlei.com | www.produktkanzlei.com
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