Dieser Fachbeitrag ist die Fortsetzung zum Aufsatz „Grundlagen zu Verantwortung und Haftung im CE- und Produktentwicklungsprozess“, nachfolgend als „Grundlagenbeitrag“ bezeichnet. Dieser behandelte die zentrale Unterscheidung zwischen Verantwortung für Tun (Handlungsverantwortung), die jeder automatisch und immer hat, und der Verantwortung für Nicht-Tun, also der Verantwortung für Unterlassen, z.B. das Nichtergreifen oder die Nichtumsetzung von notwendigen Sicherheitsmaßnahmen (Unterlassungsverantwortung bzw. Garantenstellung). Die allgemeinen Grundsätze, wie jemand zu solchen einem Garanten wird, sind im oben erwähnten Grundlagenbeitrag beschrieben.
Art und der Umfang der Unterlassungsverantwortung ist nicht nur abhängig von diesen allgemeinen Grundsätzen, sondern auch von der Einordnung der Mitarbeiter in die Unternehmensorganisation.
Zentrale Unterscheidung: „Stabsstellen“ und „Linienfunktionen“.
Kurz zusammengefasst:
Anmerkung: Wie auch im Grundlagenbeitrag werden nachfolgend mehrere Urteile zitiert, welche nicht notwendigerweise aus den Branchen Maschinen-, Anlagen und Elektrogerätebau stammen. Diese Urteile sind aber richtungsweisende Entscheidungen für Verantwortung und Haftung, und sind auch auf die o.g. Bereiche übertragbar.
„CE-Pflichten“ ergeben sich aus den unterschiedlichsten Aufgaben und Positionen. Beispielsweise tragen Konstruktionsleiter und Mitarbeiter der Konstruktion eine besondere Verantwortung für die konstruktiven (Sicherheits-)Lösungen, technische Redakteure für die Korrektheit und Vollständigkeit der Benutzerinformationen und Führungskräfte für die gesetzesforme Steuerung und Kontrolle der Unternehmens- und damit auch CE-Prozesse.
Einige Unternehmen verfolgen den Ansatz, „CE-Koordinatoren“, „CE-Beauftragte“ oder „Product Compliance Beauftragte“ zu installieren. Die eine optimale Organisationsform für diese CE-Stellen gibt es nach Auffassung der Autoren nicht, da die Ausgestaltung in hohem Maße vom jeweiligen Unternehmen und den vorhandenen Strukturen abhängt. Insbesondere in kleinen Unternehmen werden „CE-Koordinatoren“ auch noch andere Aufgaben haben.
Aber trotzdem sind verlässliche Aussagen möglich zu den Grundlagen und zum Rechtsrahmen, der zwar nicht beinflussbar ist, aber – das ist der Vorteil – genügend Spielraum lässt, um den Umfang der Verantwortung der Beteiligten zu steuern und zu beeinflussen. Dies bedeutet aber zugleich – das ist der Nachteil – dass Ergebnisse nicht immer eindeutig sind.
Wer die Aufgabe hat, zu beraten und zu unterstützen (Stabsfunktion), muss genau diese Aufgabe richtig und ausreichend vollständig erledigen – also beraten und unterstützen. Einerseits besteht also – wie immer – die Verantwortung dafür, dass jede Tätigkeit in dieser Funktion korrekt ausgeführt wird (Handlungsverantwortung), andererseits besteht die Verantwortung dafür, im Bereich des übernommenen Beratungsfelds auch tatsächlich zu beraten bzw. in den vereinbarten Formen zu unterstützen, wenn ein Anlass hierzu besteht – oder mit anderen Worten: Es besteht die Verantwortung, die ordentliche Beratung nicht zu unterlassen (Unterlassungsverantwortung).
Dieser letzte Absatz beschreibt, was klare Rechtslage ist, deutet aber zugleich die zahlreichen tatsächlichen Unklarheiten an, die immer und unvermeidbar bestehen, und die durch (schriftliche) Festlegungen nur reduziert werden können:
Jedenfalls sind Berater bzw. Stabsstellen für diese – in den Randbereichen sehr schwierig einzugrenzende – Beratungs- und Unterstützungsaufgabe sogenannte Garanten (siehe Grundlagenbeitrag). Diese Art der Verantwortung besteht bei allen CE-Beauftragten und -Koordinatoren – weniger Verantwortung und damit Haftungsrisiken gibt es nicht. Bei Übernahme von Aufgaben in der Unternehmenshierarchie kommt eine Verantwortung in der Linie hinzu – so wie es vom Amts- und Landgericht Hamburg im Falle einer Fachkraft für Arbeitssicherheit angenommen wurde (siehe 2.1.2).
Wer Unternehmerpflichten übernimmt (Linienfunktion), ist Garant für die – richtige und vollständige – Durchführung der Unternehmeraufgaben im übernommenen Aufgaben- und Pflichtenbereich.
Die Unternehmerpflichten unterscheiden sich inhaltlich je nach Zuständigkeitsbereich, Aufgabenprogramm und Unternehmensposition. Die jeweiligen Pflichten reichen von
Diese drei Gruppen sind zwar nur eine einfache schematische Unterteilung, können aber auch für den Bereich der Produktsicherheit unterschieden werden:
Fußnote zu Kapitel 1.2:
1 Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 107; ihm folgend Bock, Criminal Compliance, 2011, S. 604; mit zahlreichen Strafurteilen Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld, 2020.
Es sind zu unterscheiden:
Die Fachverantwortung eines jeden Mitarbeiters für seinen Aufgabenbereich mit Sorgfaltspflichten bedeutet zunächst und vor allen Dingen Verantwortung für Tun. Details dazu finden sich im Grundlagenbeitrag. Aus der Fachverantwortung können aber auch Handlungspflichten folgen und damit eine Garantenposition und Verantwortung für Unterlassen – mit Haftungsrisiken bei Nichtergreifen einer Sicherheitsmaßnahme.
Wer (selbst einfachste) Aufgaben übernimmt, trifft Entscheidungen. Aus diesen Entscheidungsbefugnissen folgt Verantwortung. Jeder Mitarbeiter hat – wenn auch auf kleinere Bereiche begrenzt – die für eine Garantenposition entscheidende „Entscheidungsbefugnis“2. Letztlich gibt es – mit Ausnahme von z.B. Reflexen – kein entscheidungsloses Tun. Und es entscheidet immer ein Mensch. „Organisationen handeln nicht. Menschen entscheiden und sind verantwortlich für das, was sie tun“3.
Garant ist,
Das bringt auch § 15 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) so zum Ausdruck: „Beschäftigte sind verpflichtet, für ihre Sicherheit und für Sicherheit und Gesundheit der Personen zu sorgen, die von ihren Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit betroffen sind“6. Die DGUV Regel 100-001 Nr. 3.1.1 spricht von einer „Verpflichtung zu Eigen- und Fremdvorsorge“. Das gilt auch für die Konstruktion und Fabrikation von Produkten – also alle Sorgfaltspflichten im „CE-Prozess“.
Bei der Auswahl von Bauteilen, bei Berechnungen und Konstruktionen, bei der Umsetzung der EG-Maschinenrichtlinie, der EU-Niederspannungsrichtlinie oder anderen einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen treffen Konstrukteure tausende von Entscheidungen, welche auch Einfluss auf die Sicherheit haben, und für diese „getätigten Entscheidungen“ sind sie auch verantwortlich. Zusätzlich zu den tausenden bewussten Entscheidungen entscheiden sich Konstrukteure auch gegen tausende von Dingen. Entscheiden sich Konstrukteure im Rahmen der Risikobeurteilung für eine bestimmte Maßnahme, dann entscheiden sie sich in diesem Moment auch gegen alle anderen möglichen Maßnahmen zur Absicherung der betreffenden Gefährdung. Mit anderen Worten: Alle anderen Maßnahmen werden unterlassen, es entsteht also aufgrund dieser Entscheidungs- und damit auch „Weglassungs-Möglichkeit“ eine Garantenposition und damit Unterlassungsverantwortung.
Dasselbe gilt natürlich auch für andere operativ tätige Personen, z.B. Technische Redakteure beim Erstellen von Betriebsanleitungen. Dass jemand schlicht „in einem bestimmten Bereich tätig gewesen ist“, reicht allerdings für Verantwortung nicht7, man muss die Verantwortung für eine spezifische – definierte – Aufgabe haben. Das zeigt ein Fall aus Stolberg bei Aachen8:
Nachfolgend zeigen zwei weitere Beispiele, wie operativ arbeitende Personen (ein Tischler und eine Fachkraft für Arbeitssicherheit) in Situationen kamen, in denen Gerichte anhand ihrer übernommenen Aufgaben beurteilen mussten, welche Verantwortungen und Pflichten sich dadurch in konkreten Schadenssituationen ergaben.
Beispiel 1: Das Klettergerüst
Ein Mädchen zog sich in einem Kindergarten mit sog. Aufstiegshilfen an einem Klettergerüst hoch und geriet mit Kopf und Hals in eine Öffnung, die sich zwischen der Brüstung des Klettergerüstes und der Decke des Spielzimmers befand. Das Mädchen verklemmte sich, bekam keine Luft mehr, wurde bewusstlos und verstarb aufgrund der eingetretenen Sauerstoffunterversorgung am nächsten Tag an einem Hirnschaden. Das Amtsgericht Ahaus stellte fest, das Klettergerüst „entsprach“ nicht der DIN-Norm EN 1176 „Spielplatzgeräte und Spielplatzböden“: „Danach darf der Abstand zwischen der Brüstung eines Klettergerüstes und der Decke maximal 8,9 cm betragen oder muss über 23 cm hinausgehen. Tatsächlich betrug der Abstand zwischen der Brüstung des Klettergerüstes und der Decke zwischen 15 und 20 cm“. In einer „Zeichnung“, von der wir nicht wissen, wer sie erstellt hat, war „die niedrige Deckenhöhe bei der Planung nicht beachtet worden“. Das Gericht verurteilte – neben dem Projektleiter (siehe 2.2 - Beispiel 3) und Geschäftsführer (siehe 2.3 - Beispiel 2) – den Tischler, der das Gerüst aufbaute, weil er „den zu geringen Abstand und die Nichteinhaltung einer DIN-Vorschrift übersah“9. Er „wäre bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt in der Lage gewesen, diese Mängel zu erkennen, zumal er vom Geschäftsführer mehrmals auf die maßgeblichen DIN-Vorschriften hingewiesen worden war“. Auch wenn es hier eher um pflichtwidriges Tun durch norm- und sicherheitswidrige Installation geht, ist die Garantenposition des Tischlers angedeutet: sie umfasst seine gesamte Aufbautätigkeit beim Auftragnehmer Kindergarten.
Beispiel 2: Die Wärmematte
Nachdem ein Neugeborenes auf einer defekten Wärmematte zu Tode gekommen war, verurteilte das Amtsgericht Hamburg10 eine Fachkraft für Arbeitssicherheit eines Krankenhauses – trotz ihrer Stabsfunktion (siehe 1.1) – wegen fahrlässiger Tötung, weil sie sich Aufgaben in Bezug auf das Gerätesystem „genommen“ hatte: „Ob die Begutachtung der allgemeinen Gerätesicherheit ohnehin zu den dienstvertraglichen Pflichten des Angeklagten gehörte oder eines besonderen Auftrags bedurfte und arbeitsvertraglich wirksam war, ist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten irrelevant. Seine Verantwortlichkeit ergibt sich daraus, dass er tatsächlich die ihm übertragenen Aufgaben wahrgenommen hat“. Und: „Tatsächlich ist er als Beschäftigter des Krankenhauses aufgrund seiner besonderen beruflichen Qualifikation als Ingenieur für physikalische Technik von der kaufmännischen Leitung zumindest hinsichtlich des hier in Rede stehenden Gerätesystems beauftragt worden, zur allgemeinen Gerätesicherheit Stellung zu nehmen. Durch diesen Auftrag wurde er aufgrund seines Dienstverhältnisses und nicht etwa auf freiwilliger unverbindlicher Grundlage als Gehilfe bei der Wahrnehmung der Obliegenheiten in Anspruch genommen, die der kaufmännischen Leitung auch zur Abwendung vermeidbarer Gefahren von den Patienten obliegen”. Das Landgericht Hamburg fasste die Verantwortung noch prägnanter zusammen: „Durch diesen Einzelauftrag hatte sich sein beruflicher Aufgabenkreis erweitert“ – sprach die Fachkraft aber wegen fehlender Kausalität frei.
Fußnoten zu Kapitel 2.1:
2 So auch Schäfer-Kunz, Einführung in die BWL, 5. Aufl., 2007, S. 318.3 Niels Pfläging, Führen mit flexiblen Zielen – Beyond Budgeting in der Praxis, 2006.4 Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 95.5 Herzberg, Die Verantwortung für Arbeitsschutz und Unfallverhütung im Betrieb, Zeitschrift Der Betrieb (DB) 1981, S. 690, 693.6 Ausführlich Wilrich, Sicherheitsverantwortung: Arbeitsschutzpflichten, Betriebsorganisation und Führungskräftehaftung – mit 25 erläuterten Gerichtsurteilen, 2016.7 BGH, Urteil v. 14.06.2005 (Az. VI ZR 25/04).8 Urteilsbesprechung in Wilrich, Sicherheitsverantwortung (Fn. 6), Fall 24, S. 238 ff.; zum Netzbetriebsmeister siehe noch unten 2.2.1.9 Urteilsbesprechung in Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht (Fn. 1), 2020, Fall 20, S. 262 ff.10 Urteilsbesprechung in Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht (Fn. 1), 2020, Fall 33, S. 332 ff.
Die Personalverantwortung von Vorgesetzten folgt aus der Weisungsbefugnis, denn es gilt: Keine Befugnis ohne Verantwortung (siehe Grundlagenbeitrag, Kap. 3.2.2). Wer anweist und so das Verhalten von untergeordneten Mitarbeitern steuert, hat die Verantwortung für die Auswirkung der Anweisung. Im Arbeitsschutz bedeutet dies: Es entsteht für den Vorgesetzten Verantwortung für die Mitarbeiter, wenn deren Verhalten durch eine Anweisung gesteuert wird. Im Fall von Produktsicherheit (siehe Abbildung 2) entsteht Verantwortung für die Folgen von Anweisungen (also z.B. die ausgelieferte Maschine oder das ausgelieferte Gerät).
Die Personalverantwortung und Fürsorgepflichten für Mitarbeiter bringt die DGUV Information 211-001 „Übertragung von Unternehmerpflichten“ mit folgenden Worten für „betriebliche Führungskräfte und Vorgesetzte, z.B. Meister“ prägnant so zum Ausdruck: „Die Verantwortung dieser Personen, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und damit für die Gefahrenabwehr in ihrem Bereich zu sorgen, ergibt sich bereits im Wesentlichen aus den ihnen durch den Arbeitsvertrag übertragenen Aufgaben, also aus der Stellung, die sie im Betrieb einnehmen. Einer gesonderten Übertragung dieser mit der Stellung des Vorgesetzten ohnehin verbundenen Pflichten bedarf es nicht.“ Die DGUV-Information 211-006 stellt in Nr. 3 klar: „Vorgesetzte ohne Verantwortung gibt es nicht. Wer es ablehnt, Verantwortung zu tragen, kann nicht Vorgesetzter sein.“
Was in der DGUV-Information für den Bereich des Arbeitsschutzes im Verhältnis Vorgesetzter – Mitarbeiter beschrieben ist, kann auch für den Bereich der Produktsicherheit im Verhältnis weisungsbefugte Führungskraft – Produktbetroffener gelten. Produktbetroffene können dabei neben den eigentlichen Produktnutzer (z.B. Beschäftigte eines Betriebs, welcher das Produkt nutzt) auch sogenannte Innocent Bystander sein. Dabei handelt es sich um Personen, die gar nicht in dem Unternehmen arbeiten, welches das Produkt erworben hat – also um Personen, die eher zufällig durch ein Produkt geschädigt werden könnten. Ab welcher Hierarchiestufe nicht nur interne und mitarbeiterbezogene Arbeitsschutz- und Fürsorgepflichten, sondern auch extern wirkende und die Allgemeinheit schützenden sog. Verkehrssicherungspflichten übernommen werden, ist für den Produktsicherheitsbereich nicht einfach zu sagen.
Seit 1975 nimmt der Bundesgerichtshof das an bei einer „herausgehobenen und verantwortlichen Stellung“ des Mitarbeiters11. Die entscheidende und berechtigte Frage in diesem Zusammenhang: (ab) wann ist jemand in einer solchen Stellung? Das OLG Oldenburg differenziert in einem grundlegenden Urteil für Baustellen zwischen Vorarbeiter einerseits und „übergeordneten Polieren und Bauleitern“ andererseits12: schon der Polier kann neben seinen Arbeitsschutzpflichten auch Verkehrssicherungspflichten gegenüber Dritten haben! Im Einzelnen:
Wenn Poliere als „weisungsberechtigter Leiter“ Organisationsaufgaben haben, wird auch die Schwelle im Produktherstellungsprozess entsprechend früh angesetzt, wie mehrere Urteile zeigen:
Beispiel 1: Der Stromschlag im Umspannwerk
Nachdem ein Maler einer Fremdfirma in einem Umspannwerk einen Stromschlag an einem nicht freigeschalteten Verteilerkasten erlitt, wurde ein Netzbetriebsmeister verurteilt13: Das LG Aachen stellt fest, der Betreiber hatte ihm „die Aufgabe übertragen, die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zu gewährleisten. Es ist also die zunächst den Betreiber in vollem Umfang treffende Verkehrssicherungspflicht in diesem Umfang auf ihn übertragen worden“. Das OLG Köln sagt das noch knapper: der Verurteilte war der „für die öffentlichen Sicherungsvorkehrungen zuständige und verantwortliche Netzbetriebsmeister“.
Auch wenn dieses Urteil noch eher zum Arbeitsschutz gehört (Fremdfirmen-Management), verdeutlicht es das Grundprinzip. Wer leitet, der verantwortet.
Beispiel 2: Die Explosion der Flüssiggasanlage
Ein Betriebsleiter wurde durch die Explosion einer Flüssiggasanlage schwer verletzt. Das OLG Düsseldorf14 stellte fest, der technische Leiter des Herstellers habe einen nordrhein-westfälischen Ministeriumsrunderlass nicht umgesetzt, „wonach eine redundante, möglichst diversitäre Sicherheitseinrichtung vorhanden sein muss, die den Übertritt von Flüssigphase in die dem Verdampfer nachgeordneten Anlagenteile sicher verhindert“ – und verurteilte ihn zu Schadensersatz: „Er hat die Anlage eingebaut. Als Verantwortlicher für die technische Einrichtung der Anlage haftet er deshalb gemäß § 823 Abs. 1 BGB15 für die durch Mängel der Anlage hervorgerufene Körperverletzung. Hier sind die Grundsätze der Produkthaftung anzuwenden, wonach derjenige, der an herausgehobener und verantwortlicher Stelle im Produktionsbetrieb tätig ist, für einen Schaden, der in seinem Organisations- und Verantwortungsbereich entsteht, einzustehen hat, wenn er nicht den Beweis seiner Schuldlosigkeit erbringen kann16, denn der technische Leiter war derjenige, der die Konstruktion der Anlage zu verantworten hat“.
Beispiel 3: Das Klettergerüst
Nachdem ein Klettergerüst DIN-normwidrig aufgebaut wurde und ein Mädchen verstarb, verurteilte das AG Ahaus neben dem das Spielgerät aufbauenden Tischler (siehe Beispiel 1 in Abschnitt 2.1) auch einen Projektleiter17: er „übersah den zu geringen Abstand und die Nichteinhaltung der DIN-Vorschrift. Auch er wäre bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt in der Lage gewesen, diese Mängel zu erkennen, zumal er vom Geschäftsführer mehrmals auf die maßgeblichen DIN-Vorschriften hingewiesen worden waren“. Für Projektleiter, z.B. bei der Herstellung von technischen Produkten wie elektrischen Geräten, Maschinen oder Anlagen, bedeutet dies: Durch die Übertragung einer Aufgabe, z.B. die Projektleitung der Entwicklung einer neuen Maschine, wird neben dem Projekterfolg auch (implizit) die Aufgabe übertragen, dass dieses Produkt den sicherheitstechnischen Vorschriften entspricht. Dafür sind von den Geschäftsführern entsprechende Ressourcen einzuplanen und von Projektleitern auch einzufordern. Es kann zwar nicht von Projektleitern verlangt werden, alle Details zu kennen und zu überprüfen – insbesondere nicht bei sehr komplexen Projekten. Dies berücksichtigen selbstverständlich im Ernstfall auch Gerichte. Im oben zitierten Urteil des Klettergerüsts ist der entscheidende Satz zum Projektleiter: „Auch er wäre bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt in der Lage gewesen, diese Mängel zu erkennen“. Das Gericht spricht also einerseits davon, dass der Mangel für den Projektleiter „erkennbar“ gewesen wäre und andererseits stellt das Gericht dem Projektleiter die „erforderliche Sorgfalt“ in Abrede, welche in Kombination mit der Verantwortung, die der Projektleiter trug, und dem tragischen Schadenseintritt die Voraussetzungen für eine Haftung komplettierte.
Die Erkennbarkeit und fehlende Sorgfalt ist natürlich eine Wertung des Gerichts, die wir hier nur wiedergeben können, die aber natürlich nicht überprüfbar ist und die wir daher nicht (als z.B. zu streng) kritisieren können. Man kann nur vermuten, dass die Komplexität des Projekts überschaubar war – anders als im folgenden Beispiel:
Beispiel 4: Der ICE-Unfall bei Eschede
Nach dem ICE-Unfall bei Eschede wurde das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Abteilungsleiter „Konstruktion und Berechnung“ mit folgenden Worten eingestellt: „Die bisherigen Ausführungen aller Sachverständigen haben eindrucksvoll gezeigt, dass die Bewertung der ausreichenden Sicherheit des Radreifens keinen einfachen Lösungen zugänglich ist. Je nach Ansatz sind eine Vielzahl von Einflussgrößen zu berücksichtigen, die oftmals in komplizierten Wechselwirkungen zueinander stehen.“ Die Entscheidung zur individuellen Zurechnung einer Pflichtverletzung kann „allein auf der Basis von Fakten, nicht von Emotionen getroffen werden, so verständlich diese auch sein mögen. Dies bedingt hier im besonderen Maße eine Beschäftigung mit technischen Fragestellungen“18.
Fußnoten zu Kapitel 2.2:
11 BGH, Urteil v. 03.06.1975 (Az. VI ZR 192/73) – im konkreten Fall bejaht für den „Geschäftsleiter für die Produktion der Werkzeuge für Spannbetonteile“.12 OLG Oldenburg, Urteil vom 28.2.2017 (Az. 2 U 89/16) – Urteilsbesprechung in Wilrich, Bausicherheit – Arbeitsschutz, Baustellenverordnung, Koordination, Bauüberwachung, Verkehrssicherungspflichten und Verantwortung der Baubeteiligten, 2020, Fall 2 „Abstürzende Gerüststange“.13 Urteilsbesprechung in Wilrich, Sicherheitsverantwortung (Fn. 6), Fall 24, S. 238 ff.; zur Verantwortung des Elektromonteurs siehe 2.1.14 Urteilsbesprechung in Wilrich, Praxisleitfaden Betriebssicherheitsverordnung, 2. Aufl. 2020, Fall 11, S. 371 ff.15 Das ist in Deutschland die grundlegende Vorschrift für Verkehrssicherungspflichten; in Österreich ist es § 1295 ABGB und in der Schweiz Art. 41 OR.16 Hier zitiert das Gericht das BGH-Urteil aus 1975 (Fn. 11).17 Urteilsbesprechung in Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht (Fn. 1), 2020, Fall 20, S. 262 ff.18 Erklärung des Vorsitzenden der 1. Strafkammer des LG Lüneburg am 52. Verhandlungstag zur Anregung der Einstellung des Verfahrens nach dem Unfall des ICE bei Eschede – vgl. Pressemitteilung des OLG Celle v. 28. April 2003.
Die Bereichsverantwortung des mittleren und obersten Managements für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich mit Leitungsverantwortung bedeutet vor allen Dingen Organisationspflichten: also die Beschaffung bzw. Herbeiführung und fortdauernde Gewährleistungen der Rahmenbedingungen und Struktur für die – so Art. 5 Abs. 3 EG-Maschinenrichtlinie – „notwendigen Mittel im Hinblick auf das Konformitätsbewertungsverfahren“. In einem Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach19 wird deutlich, dass ein Zeuge seine Bereichs- bzw. Leitungsverantwortung gut erkannt hatte: er sagte, dass er die ihm angebotene Position als Betriebsleiter nur übernehmen wollte, bis eine Vielzahl von Mängeln beseitigt werde, die er in einer „4 Seiten reichenden detaillierten Mängelliste“ aufzählte.
Beispiel 1: Der Unfall im Sägewerk 1883 (!)
Eines der ersten Urteile ist die Verurteilung eines Betriebsleiters nach einem tödlichem Arbeitsunfall wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen an einer Cirkularsäge: Selbst ein Verbot des Sägewerk-Eigentümers zur Herstellung der Sicherheit “hätte ihn nicht von der strafrechtlichen Verantwortung für die aus dem Betrieb des seiner Leitung unterstellten Sägewerks ohne Schutzvorrichtungen erwachsende, von ihm voraussehbare Gefährdung von Menschenleben entbinden können“20.
Beispiel 2: Das Klettergerüst
Im Fall des normwidrigen Klettergerüsts verurteilte das AG Ahaus neben dem aufbauenden Tischler (Beispiel 1 in Abschnitt 2.1) und dem Projektleiter (Beispiel 3 von Abschnitt 2.2) auch den Geschäftsführer, der in diese mittlere/obere Managementstufe zu rechnen ist: häufig sind in Kleinunternehmen (wie auch hier) Geschäftsführer unmittelbar an den Einzelprojekten beteiligt. Aus dieser Aufgabenübernahme und dem damit verbundenen Einfluss entsteht Verantwortung Der Geschäftsführer „übersah im Rahmen der Planung, dass ihm mitgeteilt worden war, dass die Deckenhöhe im Spielzimmer lediglich 2,46 m betrug. Der Angeklagte unterließ es daher, diese niedrige Deckenhöhe dem mit der Herstellung des Spielgerätes beauftragten Subunternehmer mitzuteilen. Nach Erhalt des fertiggestellten Gerüstes incl. einer Zeichnung übersah der Angeklagte erneut, dass die niedrige Deckenhöhe bei der Planung nicht beachtet worden war. Er beauftragte daher den Projektleiter und den Tischler, das Spielgerät vor Ort aufzubauen“.
Fußnoten zu Kapitel 2.3:
19 Urteilsbesprechung in Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht (Fn. 1), Fall 2 „Backanlage und Brandverletzungen“.20 Reichsgericht (RG), Urteil vom 5.2.1883 = RGSt 10,6.
Die Rechtsprechung verteilt die Verantwortung seit Jahrzehnten nach den geschilderten Prinzipien – und wird es weiter so machen. Für die beteiligten Personen ist es daher einerseits wichtig, sich ihrer jeweiligen Verantwortung bewusst zu sein, und andererseits, diese Verantwortung entsprechend in Ihren Arbeitsabläufen zu berücksichtigen.
Reinhard Sprenger folgert aus der Tatsache, dass „jede Management-Entscheidung wertgetränkt“ ist21 und „menschliche Handlungsbedingungen durch Widersprüchlichkeiten, Ungereimtheiten und Unsicherheit gekennzeichnet“ sind22, dass „der Verlust von Gewissheit die Bedeutung der Person steigert“ – mit der „bedeutenden Person“ ist jeder Entscheider gemeint – jeder, der eine Frage mit Sicherheitsbezug entscheidet.
Generell gilt:
Fußnoten zu Kapitel 3:
21 Reinhard K. Sprenger, Gut aufgestellt – Fußballstrategien für Manager, 2008, S. 211.22 Reinhard K. Sprenger, Aufstand des Individuums – Warum wir Führung komplett neu denken müssen, 2005, S. 37, 214 und 266.
Verfasst am: 28.08.2020
Prof. Dr. Thomas Wilrich Tätig rund um die Themen Produktsicherheit, Produkthaftung, Arbeitsschutz und Warenvertrieb einschließlich der entsprechenden Betriebsorganisation, Vertragsgestaltung, Schadensersatz- und Führungskräftehaftung, Versicherungsfragen und Strafverteidigung. Er ist an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits-, Technik- und Unternehmensorganisationsrecht sowie „Recht für Ingenieure“.
E-Mail: info@rechtsanwalt-wilrich.de | www.rechtsanwalt-wilrich.de
Johannes Windeler-Frick, MSc ETH Mitglied der Geschäftsleitung von IBF. Fachreferent CE-Kennzeichnung und Safexpert. Vorträge, Podcasts und Publikationen zu unterschiedlichen CE-Themen, insbesondere CE-Organisation und effizientes CE-Management. Leitung der Weiterentwicklung des Softwaresystems Safexpert. Studium der Elektrotechnik an der ETH Zürich (MSc) im Schwerpunkt Energietechnik sowie Vertiefung im Bereich von Werkzeugmaschinen.
E-Mail: johannes.windeler-frick@ibf-solutions.com | www.ibf-solutions.com
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