Wodurch und wie weit Pflichten und Verantwortlichkeiten übertragen werden
Konstrukteure, Projektleiter, Technische Redakteure, Abteilungsleiter (z.B. Entwicklungs- oder Konstruktionsleiter), QM-Mitarbeiter und viele andere Personen sind in produktsicherheitsrelevante Aspekte im Produktentstehungsprozess von Maschinen, Anlagen, elektrischen Geräten oder anderen Produkten involviert. Der nachfolgende Beitrag behandelt die Frage, wodurch und wie weit diesen Personen (aufgrund von Position oder Delegationsschreiben) Pflichten – und damit auch juristische Verantwortlichkeiten für etwaige Unzulänglichkeiten – übertragen werden bzw. wie weit sie sich (aufgrund von Tätigkeit) Verantwortung selbst nehmen.
Ausgangspunkt der Betrachtung im CE-Bereich sind nationale Produktsicherheitsgesetze und EU-Harmonisierungsrechtsvorschriften, wie z.B. die EG-Maschinenrichtlinie oder die EU-Niederspannungsrichtlinie. Diese verpflichten „den Hersteller“ bzw. „die Wirtschaftsakteure“. Bei diesen Begriffen handelt es sich um Unternehmen, also juristische Personen, die selbst rechtsfähig sind und (zunächst) alle Produktpflichten selbst haben.
Mitarbeiter dieser Unternehmen sind nur vereinzelt direkt angesprochen – etwa der Unterzeichner der Konformitätserklärung und der Bevollmächtigte zur Zusammenstellung der technischen Unterlagen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass nur jene (natürlichen) Personen, die im Gesetz angesprochen sind, zum „CE-Personal“ gehören. Vielmehr ergeben sich für die unterschiedlichsten an Produktentstehungsprozessen beteiligten Personen Verantwortlichkeiten aufgrund ihrer jeweiligen Position bzw. aufgrund ihrer übernommenen Aufgaben. Daraus ergeben sich folgende Fragen:
- Wer hat im Unternehmen nun welche CE-Aufgaben?
- Welche Pflichten entstehen daraus in welchem Umfang?
- Wie weit geht die Verantwortung des jeweiligen Mitarbeiters?
Abbildung 1 zeigt, dass Verantwortlichkeit nicht gleichzusetzen ist mit Haftung. Verantwortung heißt letztlich nur „Antwort geben“ – die Antwort steckt in Verantwortung drin. Verantwortung ist auch wertneutral: es gibt sie auch für Erfolg (wenn auch zuweilen nicht immer so wie man es sich wünscht). Haftung dagegen ist nur negativ – und bedeutet die Übernahme der Verantwortung bei Misserfolg. Haftung setzt aber neben der Verantwortung des Inanspruchgenommenen noch zahlreiche weitere Dinge voraus. Selbst wenn durch einen Fehler, den jemand begeht, ein Schaden entsteht, kommt es nur dann zur Haftung, wenn dieser Jemand fahrlässig seine Pflichten verletzt hat1 und weitere Voraussetzungen erfüllt sind2.
In diesem Fachbeitrag setzen wir den Fokus insbesondere auf die Frage, wie Personen in Unternehmen Verantwortung übertragen bekommen bzw. in welchen Situationen sich Personen Verantwortung „nehmen“, insbesondere bezogen auf CE-Prozesse – oder etwas allgemeiner, und etwas moderner formuliert: Product Compliance-Prozesse.
Anmerkung: Einige der zitierten Urteile beziehen sich auch auf Produkte, welche nicht den Bereichen Maschinenbau oder Elektrogeräteherstellung zuzuordnen sind. Diese Urteile liefern aber dennoch Einblicke, wie Gerichte „Verantwortung“ definieren und sind daher auch auf den Bereich der technischen Produkte übertragbar.
Fußnoten zur Einleitung:
1 Vorsatz als zweiter Schuldform neben der Fahrlässigkeit bleibt hier außer Betracht. Genauer zum Verschulden siehe den Beitrag „Fahrlässige Pflichtverletzungen und Verschulden der CE-Verantwortlichen“.
2 Nicht selten scheitert eine Haftung etwa an dem Erfordernis der Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden: genau diese Fahrlässigkeit muss den Unfall verursacht haben. Da insoweit aber keine Steuerungsmöglichkeiten bestehen, sondern es von Umständen außerhalb des Einflussbereichs der verantwortlichen Personen abhängig ist, bleibt es hier auch außer Betracht.
1. Verantwortung der Geschäftsleitung
Die Verantwortlichkeit für Produktsicherheit und „CE-Organisation“ beginnt mit der Verantwortlichkeit des Top-Managements. Ausgangspunkt ist die „Allzuständigkeit“ der Geschäftsführer bzw. Vorstände, die sich – selbstverständlich – auch auf Produktsicherheitspflichten und die „CE-Organisation“ erstreckt: Unternehmensleiter sind „kraft ihrer Amtsstellung grundsätzlich für alle Angelegenheiten der Gesellschaft zuständig“ – und der „vom Gesetz vorgesehenen Allzuständigkeit des Geschäftsführers“ entspricht eine „umfassende Verantwortung für die Belange der Gesellschaft“3.
Siehe hierzu unseren Beitrag „CE ist Chefsache – So reduzieren Geschäftsleiter ihr Haftungsrisiko: Führungspflichten, Organisations- und Delegationsmöglichkeiten und Haftungsminimierung durch Unternehmensorganisation“
Nachfolgend nur einige wenige Auszüge aus dem o.g. Fachbeitrag:
- Die EG-Maschinenrichtlinie verpflichtet in Art. 5 Abs. 3 zu Compliance und geeigneter Unternehmensorganisation, ohne allerdings hilfreiche Details zu geben: der „Hersteller muss im Hinblick auf das Konformitätsbewertungsverfahren über die notwendigen Mittel verfügen oder Zugang zu ihnen haben, um sicherzustellen, dass die Maschine die in Anhang I aufgeführten grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen erfüllt“ werden – und dazu gehören „erforderliche Fachkenntnisse“ und „qualifizierte Mitarbeiter“4.
- „Der Geschäftsführer braucht die in sein Ressort fallenden Pflichten nicht in eigener Person zu erfüllen. Er kann sie auch delegieren. In diesen Fällen muss er durch geeignete organisatorische Maßnahmen“ ihre Erfüllung „sicherstellen“5 . Aufgabe der Unternehmensleitung ist es, durch entsprechende organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Organisation im Stande ist, gesetzliche Anforderungen (z.B. aus der Maschinenrichtlinie oder der Niederspannungsrichtlinie) zu erfüllen. Unterlässt es die Unternehmensleitung, diese Unternehmensbereiche entsprechend zu organisieren, ergeben sich durch allgemeine Rechtsgrundsätze implizite Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, deren (teilweise dramatischen) Folgen (z.B. Haftungen nach Unfällen) den Beteiligten (inkl. Top-Management) häufig nicht klar sind.
- Das Grundgerüst dieser Organisationsmaßnahmen wird – ohne viel Zutun der Unternehmensleitung – schon durch allgemeine Rechtsgrundsätze über die Entstehung und Verteilung von Mitarbeiterverantwortung sichergestellt. Das ist nur zuweilen nicht allen Beteiligten in all seinen weitreichenden (und teilweise dramatischen) Auswirkungen auf die Haftung nach Unfällen bewusst.
Fußnoten zu Kapitel 1:
3 BGH, Urteil v. 15.10.1996 (Az. VI ZR 319/95).
4EU-Kommission, Anwenderleitfaden Maschinenrichtlinie, 2. Aufl. 2010, § 105
5 BGH, Beschluss v. 28.05.2002 (Az. 5 StR 16/02).
2. Verantwortung der Unternehmensmitarbeiter
Für die Bewertung der Verantwortung von Mitarbeitern (z.B. Konstrukteure, Projektleiter, Abteilungsleiter & Co.) sind zwei Gründe zu unterscheiden, aus denen sich Verantwortung ergibt. Diese sind:
- Tun (Handlungsverantwortung, siehe Kap. 2.1) und
- Nicht-tun (Verantwortung für Unterlassen, siehe Kap. 2.2).
Die Antwort zum ersten Bereich ist relativ simpel – und rechtlich klar: Jeder ist immer verantwortlich, für alles was er tut. Im Bereich der Unterlassungsverantwortung ist es etwas komplexer. Hier hängt es davon ab, ob jemand eine sog. „Garantenstellung“ hat. Ob und wie Mitarbeiter eines Unternehmens in solch eine Garantenstellung kommen, folgt in Kapitel 2.2.
2.1 Verantwortung für Tun - Handlungsverantwortung
Handlungsverantwortung hat grundsätzlich jeder Mensch in jeder Situation6 – auch für die „Art und Weise der Aufgabendurchführung“7. Denn „mit jedem Arbeitsauftrag wird automatisch die Handlungsverantwortung delegiert“8. Jeder ist jederzeit, jederorts und immer für jede Tätigkeit verantwortlich. Die Begründung9 dafür ist das „generelles Gebot, fremde Rechtsgüter zu respektieren“. Dem Rechtsgrundsatz „‚neminem laede‘ (‚Verletze niemanden‘10 ) folgt das Verbot, für fremde Rechtsgüter ein (nicht mehr erlaubtes) Risiko zu schaffen, sie also in ihrem Bestand und ihrer Sicherheit zu gefährden. Die Einhaltung des Gebots, etwas nicht zu tun, kann von jedermann ohne Rücksicht auf dessen persönliche Fähigkeiten erwartet werden“.
Für Mitarbeiter in beruflichen Tätigkeiten (wie im nachfolgenden Urteil für einen Handwerker) folgt daher: „Grundsätzlich muss jeder Handwerker – ohne Rücksicht auf etwaige Anweisungen des Auftraggebers – seine Aufgaben so erfüllen, dass weder aus der Ausführungstätigkeit noch aus dem hergestellten Werk Gefahren für Dritte entstehen“11 . Das gilt selbstverständlich auch für jeden Konstrukteur von Maschinen, Anlagen oder elektrischen Geräten. So wie es eine „Selbstverständlichkeit“ ist, „Unfälle und Verletzungen von Mitarbeitern zu vermeiden“ 12, ist es auch klar, dass jeder aus dem „CE-Personal“ durch sein Tun (im Konstruktions- oder Herstellungsprozess) nicht die Produktnutzer oder andere (man nennt sie „innocent bystander“) verletzten darf.
Dies bedeutet allerdings nicht automatisch, dass aufgrund einer Verantwortlichkeit bei einem Misserfolg (einem Schaden) gehaftet wird. Zusätzlich zur Verantwortung setzt Haftung auch Pflichtverletzung und Verschulden (= Fahrlässigkeit) voraus, siehe Abbildung 1.
Tipp: Fachbeitrag zur persönlichen Haftung von Konstrukteuren
Folgende Beispiele aus der Rechtsprechung sind Fälle, in denen Personen aufgrund ihres Handelns zur Verantwortung gezogen wurden:
- Das Landgericht Osnabrück verurteilte einen Instandhaltungsleiter, der eine Maschine – durch Ausbau der Lichtschranke – manipulierte13: Er „hat bewusst eine arbeitsschutztechnische Lichtschrankensicherheitseinrichtung unter Einsatz seiner elektronischen Fachkenntnisse eigenhändig außer Betrieb gesetzt und bewusst so unmittelbar für die Gewährleistung des Maschinenbetriebes ohne die erforderliche Lichtschranke gesorgt“.
- Nachdem ein Beschäftigter sich seine Hand an einer hydraulischen Presse ohne Schutzeinrichtung gequetscht hatte, wurden mehrere Personen als „Verantwortliche für die Arbeitsvorgänge im Betrieb“ auf Zahlung der Unfallkosten an die Berufsgenossenschaft verurteilt: im erstinstanzlichen Urteil wird einer der Verurteilten als „Maschineneinrichter“ bezeichnet, im zweitinstanzlichen Urteil heißt es etwas genauer, er „hat das Werkzeugfür die Herstellung der Stahlbügel in die Presse eingebaut und angepasst“ und ist damit verantwortlich, weil er „die unvollständige Einrichtung vorgenommen hat“14.
- Nach einer Gasexplosion nahe einer Bäckerei in Lehrberg wird einem Monteur die „falsche Verwendung (versehentlich verstellte Drehrichtung) eines unzulässigen Werkzeugs (mit Druckluft betriebener Schrauber statt händisch eingesetzter Knarre)“ vorgeworfen15. Er hat entschieden, den Druckluftschrauber zu nehmen und nicht die Knarre. Er hat auch entschieden, die Drehrichtung unzutreffend einzustellen. Wenn gesagt wird, das habe er nicht bewusst entschieden, das sei doch unbeabsichtigt und versehentlich geschehen, muss klargestellt werden, dass die Frage der Absicht der Versehentlichkeit keine Frage der Handlung ist, für die – selbstverständlich – die Verantwortung übernommen werden muss, sondern eine Frage der Schuld, also der Fahrlässigkeit.
- Das Amtsgericht Ahaus verurteilte einen Tischler, der ein Klettergerüst sicherheitswidrig aufbaute, weil er „die Nichteinhaltung einer DIN-Vorschrift übersah“16 . Obgleich es in dieser Rechtsprechung nicht um ein technisches Produkt ging, ist diese Grundaussage auch zentral für Konstrukteure und Monteure; viele Ausführungen in Gerichtsurteilen sind auch auf andere Branchen übertragbar (z.B. Maschinen- und Anlagenbau, Elektroindustrie).
Fußnoten zu Kapitel 2.1:
6 Nur für Beamte ist diese automatische Handlungsverantwortung ausdrücklich geregelt:
in Deutschland in § 63 Bundesbeamtengesetz (BBG) und § 36 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG): „Beamte tragen für die Rechtmäßigkeit ihrer dienstlichen Handlungen die volle persönliche Verantwortung“;
in Österreich in § 43 Abs. 1 Beamten-Dienstrechtsgesetz (BDG): „Der Beamte ist verpflichtet, seine dienstlichen Aufgaben unter Beachtung der geltenden Rechtsordnung treu, gewissenhaft, engagiert und unparteiisch mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln aus eigenem zu besorgen“.
7 Schulte-Zurhausen, Organisation, 5. Aufl. 2010, S. 166.
8 Laufer, Grundlagen erfolgreicher Mitarbeiterführung, 11. Aufl. 2011, S. 105.
9 Vgl. nur Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 15 Rn. 131 und 132.
10 Siehe hierzu Wilrich, Sicherheitsverantwortung: Arbeitsschutzpflichten, Betriebsorganisation und Führungskräftehaftung – mit 25 erläuterten Gerichtsurteilen, 2016.
11 OLG Zweibrücken, Urteil v. 16.09.1976 (Az. 6 U 31/76).
12 ArbG Wuppertal, Beschluss v. 15.06.2005 (Az. 5 BV 20/05)
13 LG Osnabrück, Urteil v. 20.09.2013 (Az. 10 KLs 16/13) – Fallbesprechung Wilrich, Maschinenmanipulation – Tod eines Auszubildenden, in: Sicherheitsingenieur (2018) Heft 7, S. 34–37.
14 LG Münster, Urteil v. 11.02.1998 (Az. 10 O 549/97) und OLG Hamm, Urteil v. 20.01.1999 (Az. 13 U 84/98 – Fall „Presse: Unfall beim ‚Probebetrieb‘“ in Wilrich, Praxisleitfaden BetrSichV – mit 33. Gerichtsurteilen, 2. Aufl. 2020, Fall 22, S. 443 ff:
15 Urteilsbesprechung in Wilrich, Sicherheitsverantwortung (Fn. 10), Fall 12, S. 160 ff.
2.2 Verantwortung für Unterlassen – Pflichten für Personen in „Garantenstellung“
Wer verantwortlich ist, wenn im Produktentstehungs- oder -vermarktungsprozess Sicherheitsmaßnahmen unterblieben sind, richtet sich nach § 13 StGB (D) bzw. § 2 StGB (AT) bzw. Art. 11 StGB (CH) über das „Begehen durch Unterlassen“.
Deutschland: StGB § 13 Begehen durch Unterlassen
(1) Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.
Österreich: StGB § 2 Begehen durch Unterlassen
Bedroht das Gesetz die Herbeiführung eines Erfolges mit Strafe, so ist auch strafbar, wer es unterlässt, ihn abzuwenden, obwohl er zufolge einer ihn im besonderen treffenden Verpflichtung durch die Rechtsordnung dazu verhalten ist … .
Schweiz: StGB Art. 11 Begehen durch Unterlassen
(1) Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
(2) Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund:
a. des Gesetzes;
b. eines Vertrages;
c. einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder
d. der Schaffung einer Gefahr. …
Diese Vorschriften verpflichten, „aktiv in das Geschehen einzugreifen und nicht tatenlos zuzusehen“17.
Anmerkung zu den Gesetzeszitaten aus Deutschland und Österreich:
„Erfolg“ in der deutschen und österreichischen Vorschrift ist der Unfall bzw. Schaden, also im Falle der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung die Verletzung eines Menschen bzw. sein Tod. Gemeint ist eben nur der „strafrechtliche Erfolg“ – der „Erfolg im Rechtsleben“ ist der Misserfolg im tatsächlichen Leben. Die Schweiz bringt dasselbe in weniger schockierendem Deutsch zum Ausdruck mit den Worten der „Verhinderung der Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes“.
Wer ist „Garant“?
Wer in diesem Sinne „einstehen“ muss (D) bzw. durch die Rechtsordnung zur Abwendung „verhalten“ (AT) bzw. zur Verhinderung „verpflichtet“ (CH) war, wird Garant genannt – er hat eine Garantenstellung. Für diese Garantenposition kommt es darauf an, ob er „rechtlich“ einstehen muss, eine nicht im Recht verankerte, etwa „sittliche Pflicht“ reicht nicht18. Die Schweiz zählt im Gesetz immerhin die Gründe auf, aus denen eine Garantenstellung folgen kann:
- Eine Garantenstellung aus Gesetz wird wegen der ausdrücklichen Betonung ihrer Allzuständigkeit für die Geschäftsführer angenommen (siehe oben 2).
- Für Mitarbeiter kommt im Produktsicherheitsbereich nur eine Garantenstellung aus Vertrag in Betracht (weil es hier keine Rechtsvorschriften gibt, die Mitarbeitern ausdrücklich gesetzliche Verantwortung auferlegen19).
- Mitarbeiter können sich die Produktsicherheitsverantwortung allerdings auch nehmen. Auch eine solche (tatsächliche) Übernahme von Sicherheitspflichten durch Übernahme einer Aufgabe (wie im Fall der Wuppertaler Schwebebahn20) oder Ausführung einer Tätigkeit (wie im Fall des Leiterunfalls am Mittellandkanal21) hat aber letztlich einen vertraglichen Hintergrund (nämlich den Arbeitsvertrag).
Auch wenn Juristen immer für solche Aussagen gescholten werden: die Garantenstellung hängt „letztlich von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab; dabei bedarf es einer Abwägung der Interessenlage und des Verantwortungsbereichs der Beteiligten“22. Und „bei arbeitsteiligem Handeln hängt es von den jeweiligen Verantwortungsbereichen ab, welche Beteiligten ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben und in welchem Umfang die für den Gesamtvorgang Verantwortlichen im Hinblick auf das mitwirkende Personal Kontroll-, Aufsichts- und Auswahlpflichten treffen und wieweit sie für Organisationsmängel selbst einzustehen haben“23.
Drei Grundsätze sind allerdings elementar und unumstößlich. Garant i.S.d. § 13 StGB (D) ist jeder,
- der eine Aufgabe übernimmt (zur Aufgabenübernahme siehe 2.2.1),
- und zwar auch nur mündlich und nicht zwingend schriftlich (zur Relevanz der „gelebten“ Organisation siehe 2.2.2)
- im Rahmen der Befugnisse (zum Befugnisumfang siehe 2.2.3).
Das Verantwortungsausmaß, das aus den übernommenen Befugnissen folgt ist abhängig von der Art und dem Umfang der übernommenen Aufgaben.
Daher hat auch die Position bzw. Stellung in der Unternehmenshierarchie Einfluss auf das Verantwortungsausmaß. Zu den Auswirkungen dieser Aspekte ist ein weiterer Fachbeitrag geplant. Im CE-InfoService erfahren Sie, sobald dieser vorliegt.
Fußnoten zu Kapitel 2.2:
16 Urteilsbesprechung in Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen, 2020, Fall 20, S. 262 ff.
17 Wessing/Dann, in: Bürkle/Hauscka, Der Compliance Officer – Ein Handbuch in eigener Sache, 2015, § 9 Rn. 74, S. 215.
18 BGH, Urteil v. 24.02.1982 (Az. 3 StR 34/82).
19 Das ist anders für den Bereich der Arbeitssicherheit und die Betreiberverantwortung; ausführlich Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen, 2020.
20 Siehe unten 2.2.1 bei Fußnote 30.
21 Siehe unten 2.2.1 bei Fußnote 31.
22 BGH, Urteil v. 12.01.2010 (Az. 1 StR 272/09) – Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall.
23Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Auflage 2018, § 15 Rn 39.
2.2.1 Verantwortung durch Aufgabenübernahme
Entscheidend und ausreichend für eine Garantenposition ist die „tatsächliche Übernahme“ einer Aufgabe:
- „Maßgebend für die Begründung einer Garantenstellung ist allein die tatsächliche Übernahme des Pflichtenkreises, nicht (auch) das Bestehen einer entsprechenden vertraglichen Verpflichtung“24.
- „Die Sorgfaltspflichten sind nicht auf die jeweils vertraglich geschuldeten Leistungen beschränkt“25.
- „Die Entstehung einer Garantenstellung folgt aus der Überlegung, dass demjenigen, dem Obhutspflichten für eine bestimmte Gefahrenquelle übertragen sind, dann auch eine ‚Sonderverantwortlichkeit‘ für die Integrität des von ihm übernommenen Verantwortungsbereichs trifft. Der Inhalt und der Umfang der Garantenpflicht bestimmen sich sodann aus dem konkreten Pflichtenkreis, den der Verantwortliche übernommen hat“26.
Wenn die „tatsächliche Übernahme“ für die Verantwortung entscheidend ist (also das, was „gelebt“ wird), steckt darin zugleich, dass es nicht (so sehr und nicht primär) auf das Festgelegte und Verschriftlichte ankommt. Selbst im Fußball ist das angekommen – von Alfred (Adi) Preißler stammt die Weisheit: „Grau is' im Leben alle Theorie – aber entscheidend is' auf’m Platz“. Auf die Mitarbeiterverantwortung bezogen heiß das: Schwarz auf weiß in Verträgen und Delegationsschreiben ist die Theorie, entscheidend ist was man tut und lebt. Entscheidend is‘ auf’m Arbeitsplatz.
Beispiele aus der Rechtsprechung für Haftungen aufgrund des Unterlassens von Maßnahmen, für die Personen aufgrund Ihrer Garantenstellung durch Aufgabenübernahme verantwortlich waren:
- Für einen Fahrer mit Aufgaben in der Werkstatt einer Spedition sagte der BGH27, seine „Garantenstellung erwuchs aus seiner Übernahme der Wartungsaufgabe im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses; sie bezog sich auf die Beseitigung der mit dem Betrieb der von ihm zu wartenden Firmenfahrzeuge für die Allgemeinheit bestehenden Gefahren. Die arbeitsvertragliche Übernahme der Wartungspflicht begründete deshalb zugleich auch eine Schutzfunktion gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, die in den durch unzureichende Wartung begründeten Gefahrenbereich der seiner Aufsicht unterliegenden Firmenfahrzeuge geraten würden“.
- In einem Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach28 findet sich auf der letzten Seite die Aussage, der Produktionsleiter habe als Zeuge ausgesagt, „dass alle neu eingestellten Arbeitnehmer durch ihn oder den Schichtführer eingewiesen worden seien“. Das Gericht schlussfolgerte, „hiernach steht fest, dass Einweisung und Belehrung auf den Produktionsleiter übertragen waren“. Das Gericht leitete also aus der tatsächlichen Handhabung zugunsten des Geschäftsführers die Erfüllung der Pflicht zur Schaffung einer „geeigneten Organisation“ ab.
- Nachdem ein Neugeborenes auf einer defekten Wärmematte zu Tode gekommen, verurteilte das Amtsgericht Hamburg eine Fachkraft für Arbeitssicherheit eines Krankenhauses – trotz ihrer Stabsfunktion29 – wegen fahrlässiger Tötung, weil sie sich Aufgaben in Bezug auf das Gerätesystem genommen hatte: „Ob die Begutachtung der allgemeinen Gerätesicherheit ohnehin zu den dienstvertraglichen Pflichten des Angeklagten gehörte oder eines besonderen Auftrags bedurfte und arbeitsvertraglich wirksam war, ist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten irrelevant. Seine Verantwortlichkeit ergibt sich daraus, dass er tatsächlich die ihm übertragenen Aufgaben wahrgenommen hat“. Und: „Tatsächlich ist er als Beschäftigter des Krankenhauses aufgrund seiner besonderen beruflichen Qualifikation als Ingenieur für physikalische Technik von der kaufmännischen Leitung zumindest hinsichtlich des hier in Rede stehenden Gerätesystems beauftragt worden, zur allgemeinen Gerätesicherheit Stellung zu nehmen. Durch diesen Auftrag wurde er aufgrund seines Dienstverhältnisses und nicht etwa auf freiwilliger unverbindlicher Grundlage als Gehilfe bei der Wahrnehmung der Obliegenheiten in Anspruch genommen, die der kaufmännischen Leitung auch zur Abwendung vermeidbarer Gefahren von den Patienten obliegen”. Das Landgericht Hamburg fasste die Verantwortung prägnanter zusammen: „Durch diesen Einzelauftrag hatte sich sein beruflicher Aufgabenkreis erweitert“ – sprach die Fachkraft aber wegen fehlender Kausalität frei.
- Und noch weitergehend: Selbst wer eine Aufgabe nur zusagt, kann Garant sein: Im Urteil zum Unfall der Wuppertaler Schwebebahn hatten zwei Arbeitnehmer zwei anderen Arbeitnehmern gesagt, dass sie die – unfallauslösende – Kralle von den Schienen abnehmen werden, was indes unterblieb; der BGH sagte30, es „ist ohne Bedeutung, ob die Angeklagten arbeitsvertraglich verpflichtet waren, eine solche Schutzfunktion zu übernehmen. Maßgebend für die Begründung einer Garantenstellung ist allein die tatsächliche Übernahme des Pflichtenkreises, nicht (auch) das Bestehen einer entsprechenden vertraglichen Verpflichtung“.
- Und sogar: Wer nur die Erfüllung einer Sicherheitspflicht behauptet, kann daran festgehalten werden – und es kann vorgeworfen werden, diese Pflicht nicht ordentlich wahrgenommen zu haben: Nachdem eine Mitarbeiterin der Bauherrin wegen eines durchscheuerten und verrotteten Sicherheitsseils von einer Leiter gefallen war, hatte der Sicherheits- und Gesundheitsschutzkoordinator (SiGeKo) behauptet, seiner „Überwachungspflicht nachgekommen“ zu sein, „da er noch ca. 30 Minuten vor dem Unfall die Leiter selbst bestiegen und keine Sicherheitsmängel festgestellt habe“. Das OLG Celle verurteilt ihn31, denn er könne „nicht, sofern er sich überhaupt eines bestimmten Problems annimmt, die Augen vor Gefahrenquellen verschließen darf bzw. von ihm durchzuführende Kontrollen nur unzureichend durchführt. Gerade dies war indes der Fall, da – wie unstreitig ist – er die Leiter selbst kontrolliert hat, dies aber eben nur unzureichend“. Es ist übrigens eher nicht anzunehmen, dass der SiGeKo überhaupt die von ihm angenommene Überwachungspflicht hatte, was das Gericht wegen der tatsächlichen Übernahme gar nicht prüfen musste, aber mit den Worten andeutete, dass „es zutreffen mag, dass sich ein Koordinator nicht um jede einzelne angestellte Leiter kümmern muss“.
Fußnoten zu Kapitel 2.2.1:
24 BGH, Urteil v. 31.01.2002 (Az. 4 StR 289/01) – Wuppertaler Schwebebahn.
25 BGH, Urteil v. 13.11.2008 (Az. 4 StR 252/08) – Gebäudeeinsturz.
26 BGH, Urteil v. 09.05.2017 (Az. 1 StR 265/16).
27 BGH, Beschluss v. 06.03.2008 (Az. 4 StR 669/07) – Lkw-Unfall Kerkrade.
28 Urteilsbesprechung in Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld, 2020, Fall 3 „Backanlage und Brandverletzungen“.
29 Beitrag in Vorbereitung: „Stabsstelle, Linienposition und Unternehmenshierarchie - Auswirkungen der Unternehmensorganisation auf die Verantwortung der CE-Zuständigen“
30 BGH, Urteil v. 31.01.2002 (Az. 4 StR 289/01).
31 OLG Celle, Urteil v. 3.03.2004 (Az. 9 U 208/03) – Fallbesprechung „Leitersturz der Bauherrin beim Bau des Mittellandkanals“ in Wilrich, Baustellensicherheit, erscheint 2020.
2.2.2 Schriftform ist keine Voraussetzung
Da es nur auf die Aufgabenübernahme ankommt (siehe 2.2.1) setzt eine Garantenposition gemäß § 13 StGB keine schriftliche oder ausdrückliche Beauftragung bzw. Pflichtenübertragung voraus32. Es kommt nur auf die Einsetzung in eine Position oder die Übertragung einer Aufgabe an – und es reicht eben sogar die Übernahme einer Stelle oder Aufgabe.
Die „Verkehrssicherungspflicht knüpft an die typischerweise Gefahren reduzierende soziale Rolle, die hierauf vertrauende Verkehrserwartung und die tatsächliche Wahrnehmung der Aufgabe, nicht an den Vertrag“33. Soziologisch beinhaltet eine soziale Rolle „generalisierte Verhaltenserwartungen“34 . Man mag verwundert über diesen Begriff aus der Soziologie sein, er ist aber bei Fahrlässigkeitsstraftaten anerkannt35 – auch die ISO 9001 geht von „Verantwortlichkeiten und Befugnissen für relevante Rollen“ in der Organisation aus (siehe auch im Fazit 3). Das wird häufig bei der Sorgfaltspflichtverletzung betont: „Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt ergeben sich aus den Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage ‚ex ante‘ [im Vorhinein, Anm.] an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und der sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind“36.
In den Durchführungshinweisen zu § 12 BGV A1 (alte Fassung) hieß es sehr prägnant: „Vorgesetzte und Aufsichtführende sind aufgrund ihres Arbeitsvertrages verpflichtet, im Rahmen ihrer Befugnis die zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren erforderlichen Anordnungen und Maßnahmen zu treffen und dafür zu sorgen, dass sie befolgt werden. Insoweit trifft sie eine zivilrechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit“. Das gilt nicht nur arbeitsschutzrechtlich im Unternehmen, sondern auch produkthaftungsrechtlich nach außen gegenüber Produktnutzern.
Fußnoten zu Kapitel 2.2.2:
32 Zu den insoweit bestehenden Mythen aus Sicht der Betreiberverantwortung siehe Wilrich, Warum § 13 ArbSchG und DGUV Vorschrift 1 irrelevant und irreführend sind: Zwölf Irrungen und Verwirrungen zur „Übertragung von Unternehmerpflichten“ und Arbeitsschutzbeauftragung der Führungskräfte, in: Sicherheitsingenieur Hefte 5 und 6/2020.
33 OLG Frankfurt a.M., Urteil v. 9.11.2005 (Az. 1 U 119/05) – Fallbesprechung „Gerüststurz Gießen“ in Wilrich, Baustellensicherheit, erscheint 2020.
34Luhmann, Der neue Chef, 2016.
35 Vgl. z.B. Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil: Die Straftat und ihr Aufbau, 40. Aufl. Rn. 669.
36 OLG Hamburg, Beschluss v. 28.04.2015 (Az. 1 Rev 13/15) und OLG Hamm, Beschluss v. 12.01.2016 (Az. 3 RVs 91/15) – beide zu ehrenamtlichen Übungsleitern nach einem eingestürzten Fußballtor; OLG Dresden, Urteil v. 14.02.2014 (Az. 2 OLG 25 Ss 788/14) – zu einer Hebamme; BGH, Urteil v. 1.02.2005 (Az. 1 StR 422/04); BGH, Urteil v. 14.03.2003 (Az. 2 StR 239/02); BGH, Urteil v. 19.04.2000 (Az. 3 StR 442/99).
2.2.3 Verantwortung im Rahmen der Befugnisse
Aber wie weit geht nun die Verantwortung durch Aufgabe- oder Positionsübernahme? Wie groß ist der Verantwortungsumfang? Die Kurzformel für eine Garantenposition ist:
„Verantwortung setzt Freiheit des Handelns und damit Befugnis zur Entscheidung voraus“, sie kann „daher nur im Rahmen der übertragenen Entscheidungsbefugnis“ bestehen, wenn es also „möglich ist, selbständig zu handeln“37.
Befugnisse begründen Verantwortung:
- „Herrschaft hat Verantwortung als Kehrseite“38, Befugnisse bedeuten Einflussmöglichkeit und „Verantwortung ist das spiegelbildliche Gegengewicht zu diesem Einflussrecht und entsteht uno actu mit der Kompetenzerteilung“39. Also gilt: Keine Befugnis ohne (Garanten-)Verantwortung. In seinem Buch „Die Entscheidung liegt bei Dir“ schreibt Reinhard Sprenger: „Denn die Freiheit, entscheiden zu können, beinhaltet auch den Zwang, entscheiden zu müssen“.
Befugnisse begrenzen aber auch die Verantwortung:
- „Verantwortlichkeit richtet sich nach den Befugnissen, da niemand für etwas verantwortlich gemacht werden soll, auf das er wegen fehlender Befugnisse keinen Einfluss hat“40. Für den Baubereich heißt es z.B.: „Jeder Bauausführende ist nur im Kreise der ihm zugewiesenen Tätigkeit und im Rahmen der ihm eingeräumten Bewegungsfreiheit für die Beobachtung der allgemein anerkannten Regeln der Baukunst verantwortlich“41. Übertragen auf den Produktsicherheitsbereich: Jeder am Konstruktions- und Herstellungsprozess beteiligte Mitarbeiter ist nur (aber das ist er eben) im Kreise der ihm zugewiesenen Entscheidungsfreiheiten für die Einhaltung der Sicherheitspflichten verantwortlich. Also gilt als Haftungsgrenze: Keine (Garanten-)Verantwortung ohne Entscheidungsfreiheit = Befugnisse.
Aber noch einmal der Hinweis: man kann sich die Position oder Aufgabe auch selbst nehmen – und ist dann natürlich auch im Rahmen seines „Zugriffs“ verantwortlich.
Fußnoten zu Kapitel 2.2.3:
37 BT-Drs. 5/1319 vom 20.01.1967, S. 65.
38Kindhäuser, Strafrecht – Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2011, § 11 Rn. 22.
39Jung/Bruck/Quarg, Allgemeine Managementlehre, 5. Aufl. 2013, B.III.4., S. 51.
40Kieser/Kubicek, Organisation, 3. Aufl. 1992 bzw. Kieser/Walgenbach, Organisation, 5. Aufl. 2007 - jeweils Kapitel 3.2.1.3 (1)
41 OLG Koblenz, Urteil v. 21.12.1972 (Az. 1 Ss 238/72).
3. Fazit und Empfehlungen
- Dass Personen Verantwortung in vielen Fällen durch die (implizite) Übernahme von Aufgaben oder durch die Übernahme einer Position (z.B. im Fall einer Beförderung oder einer neuen Tätigkeit) bekommen, bedeutet nicht, dass Unternehmen auf Stellenbeschreibungen und andere schriftliche Organisationsinstrumente verzichten sollten. Der Sinn und Zweck von solchen Dokumenten ist es ja gerade, Verantwortlichkeiten möglichst klar zu regeln. Schlussendlich sollte das Ziel nicht aus den Augen verloren werden: Durch eine geeignete Unternehmensorganisation, in der die beteiligten Akteure wissen, wofür sie verantwortlich sind, entstehen auf effiziente Weise sichere Produkte.
- Diskussionen in Seminaren und Beratungen zeigen: Gerade Personen, die an Produktentstehungsprozessen beteiligt sind, hegen große Sorgen bzgl. deren Haftungsexposition. Der immer wieder anzutreffende Spruch „als Konstrukteur steht man mit einem Fuß eh im Gefängnis“ hält einer empirischen und juristischen Überprüfung nicht stand. Dennoch haben selbstverständlich Konstrukteure und weitere beteiligte Personen eine hohe Verantwortung, welche für alle erkennbar und umsetzbar sein sollte. Aus Sicht der Unternehmensorganisation (und damit aus Sicht des Managements, welches für eben diese Organisation zu sorgen hat), sollte sichergestellt sein, dass die beteiligten Personen über die notwendigen „Mittel“ verfügen. Für die Herstellung von technischen Produkten sind dies insbesondere:
- Notwendiges Know-How, z.B. durch laufende Weiterbildungen.
- Zugriff zu aktuellen Normen
- Optimalerweise: Tools, die bei der Umsetzung der gesetzlichen und normativen Anforderungen unterstützen
- Viele Unternehmen setzen zur Bewältigung der Product-Compliance Anforderungen auf sogenannte CE-Beauftragte, CE-Koordinatoren und ähnliche Positionen. Ob und wie gut die produktsicherheitsrechtlichen Anforderungen durch diese Stelle(n) umgesetzt werden hängt aus Sicht der Autoren insbesondere von zwei Dingen ab:
- Die Aufgaben für CE-Koordinatoren sind klar definiert.
Welche Aufgaben und Tätigkeiten ein CE-Koordinator übernehmen soll lässt sich nicht pauschal beantworten. Dies ist von vielen Faktoren abhängig, z.B. von der Organisationsform (Linien, Matrix, etc.), Unternehmensgröße, etc. Generell empfehlenswert ist allerdings, dass es sich um eine Stelle handelt, welche die entsprechenden Themen „koordiniert“, also z.B. dafür sorgt, dass die Organisation über die nötigen Mittel verfügt, etwa auch indem interne Schulungen angeregt oder durchführt werden. Häufig unterstützen diese Personen aufgrund ihrer hohen Fachkompetenz auch bei Spezialfragen. Eher nicht empfehlenswert – obgleich dies in der Praxis häufig anzutreffen ist – sind Situationen, in denen „CE-Koordinatoren“ für die operative Durchführung sämtlicher Risikobeurteilungen bzw. generell für alles, was „mit CE zu tun hat“ (bis hin zum Verfassen der Betriebsanleitungen), zuständig sind. Das alles zusammen kann kaum mit entsprechender Sorgfalt durchgeführt werden. - Management Support / Management Commitment
Durch die Schaffung einer dezidierten Stelle für Product Compliance investieren Unternehmen in die Sicherheit Ihrer Produkte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass durch die Schaffung solcher Stellen garantiert ist, dass sichere Produkte entstehen. Ferner bedeutet es insbesondere auch nicht, dass das Management rein durch die Schaffung einer Stelle all Ihre organisatorischen Pflichten erfüllt hat. Damit ein CE-Koordinator die übertragenen Aufgaben effizient erledigen kann, benötigt er in vielen Fällen entsprechende Unterstützung durch das Management. Insbesondere, wenn es um größer angelegte Qualifizierungsmaßnahmen o.ä. geht sind CE-Koordinatoren in vielen Unternehmen auf die Gunst unterschiedlicher Abteilungsleiter angewiesen. Ohne entsprechendes Commitment der Unternehmensführung verpuffen Aufwände und gewünschte Effekte treten nicht ein. Folgende Aussage aus ISO 900142 ist aus Sicht der Autoren auch 1:1 auf den Produktsicherheitsbereich und insbesondere auf die Rolle von CE-Koordinatoren übertragbar: «Die oberste Leitung muss sicherstellen, dass die Verantwortlichkeiten und Befugnisse für relevante Rollen innerhalb der gesamten Organisation zugewiesen, bekannt gemacht und verstanden werden.“
- Die Aufgaben für CE-Koordinatoren sind klar definiert.
- Jede Person die entscheidet (auf Management-Ebene, wie auch auf operativer Ebene, z.B. bei der Auswahl von Bauteilen, etc.) muss eine gewisse „Unsicherheitstoleranz“ haben – so sagt es Reinhard Sprenger für jede Führungskraft. Gemeint ist das nicht in dem Sinne, dass (Produkt-)Unsicherheiten toleriert werden, sondern dass (Rechts-)Unsicherheiten akzeptieren werden müssen. Jede Entscheidung kann Einfluss auf die Produktsicherheit haben und bringt den Entscheider damit in eine Verantwortung. Jene Person, die in der Verantwortung für eine bestimmte Tätigkeit bzw. in der Verantwortung für das Nicht-Unterlassen von etwas ist, kann die persönliche Haftung durch die sorgfältige und korrekte Ausführung ihrer Tätigkeiten anhand von zwei Variablen steuern (siehe Abbildung 1):
- Das entwickelte Produkt ist sicher, sprich: es wird in Zukunft kein Schaden entstehen, für den jemand haftbar ist. Dies scheint einerseits offensichtlich und trivial, andererseits sollte dieses Ziel bei allen Überlegungen zu Produktsicherheit im Mittelpunkt stehen. Organisatorische Strukturen, Stellen, nötige Mittel, hilfreiche Tools, usw. sollten in erster Linie zur Erfüllung dieses Ziels sicherer Produkte geschaffen und darauf ausgerichtet werden.
- Alle Tätigkeiten bei der Entwicklung eines Produktes entsprechen den einschlägigen Richtlinien (z.B. EG-Maschinenrichtlinie, EU-Niederspannungsrichltinie), allgemeine Produktsicherheitsrecht und dem Stand der Technik. Dann liegt keine Pflichtverletzung vor.
- Diese Tätigkeiten wurden sorgfältig und verantwortungsvoll durchgeführt: so kommt im Fall eines Schadens eine Haftung deshalb nicht in Frage, weil keine Fahrlässigkeit vorliegt.
Fußnote Kapitel "3 Fazit und Empfehlungen":
42 EN ISO 9001:2015 Qualitätsmanagementsysteme - Anforderungen
43 Reinhard K. Sprenger, Aufstand des Individuums – Warum wir Führung komplett neu denken müssen, 2005, S. 214
Verfasst am: 19.06.2020
Autoren
Prof. Dr. Thomas Wilrich
Tätig rund um die Themen Produktsicherheit, Produkthaftung, Arbeitsschutz und Warenvertrieb einschließlich der entsprechenden Betriebsorganisation, Vertragsgestaltung, Schadensersatz- und Führungskräftehaftung, Versicherungsfragen und Strafverteidigung. Er ist an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits-, Technik- und Unternehmensorganisationsrecht sowie „Recht für Ingenieure“.
E-Mail: info@rechtsanwalt-wilrich.de | www.rechtsanwalt-wilrich.de
Johannes Frick, MSc ETH
Geschäftsführer der IBF Solutions AG mit Sitz in Zürich. Fachreferent CE-Kennzeichnung nach Maschinenrichtlinie und Niederspannungsrichtlinie sowie Safexpert. Studium der Elektrotechnik an der ETH Zürich im Schwerpunkt Energietechnik.
E-Mail: johannes.frick@ibf-solutions.com | www.ibf-solutions.com
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