Fachbeitrag

Aktuelle Entwicklungen zu ISO und IEC-Normen im EU-Amtsblatt

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Folgen des Malamud-Urteils: Keine EN ISO und EN IEC-Normen mehr im EU-Amtsblatt?


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Werden bald keine internationalen Normen mehr im EU-Amtsblatt gelistet? Aufgrund ungeklärter Urheberrechtsfragen haben ISO und IEC Klage gegen die kostenlose Bereitstellung von Normen im Zuge des sogenannten Malamud-Urteils erhoben. Als Folge werden derzeit keine Normen zur Veröffentlichung im Amtsblatt vorgeschlagen, die auf ISO- bzw. IEC-Ebene erstellt worden sind.

Der Fachbeitrag erläutert die Hintergründe und Zusammenhänge und gibt Normenanwendern Empfehlungen, wie sie in der aktuellen Situation am besten reagieren.
 

1. Rückblick auf die bisherigen Ereignisse

Vor gut einem Jahr sorgte das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Causa „Malamud“ für Aufsehen. Die Kläger hatten gefordert, dass harmonisierte Normen im EU-Amtsblatt als Teil des Unionsrechts frei und kostenlos zugänglich sein müssen. Dieser Klage gab der EuGH am 5. März 2024 statt:

Jedem Bürger der EU sowie jeder natürlichen oder juristischen Person muss Zugang zu solchen Dokumenten gewährt werden, die sich im Besitz der EU-Kommission befinden. In der behandelten Causa stellen die angeforderten Dokumente Teil des EU-Rechts dar, da die EU-Kommission diesen Normen durch die Veröffentlichung im EU-Amtsblatt Rechtswirkung verleiht.

Infolge des Urteils stellten die ESOs (die europäischen Normungsorganisationen CEN und CENELEC) über ihre nationalen Mitglieder Plattformen bereit, auf denen eine bestimmte Anzahl harmonisierter Normen mit Listung im EU-Amtsblatt über einen Lesezugriff abrufbar ist. Diese Plattformen wurden seit September 2024 schrittweise veröffentlicht.

Einige Wochen später reichten die internationalen Normungsorganisationen ISO (= die internationale Organisation für Normung) und IEC (=die Internationale elektrotechnische Kommission) beim EuGH Klage gegen eben diese Auslegung des Urteils ein und verlangen, dass der bisherige Beschluss für nichtig erklärt wird. Begründet wurde dies unter anderem damit, dass die kostenlose Bereitstellung von EN-Normen, die auf internationaler Ebene entwickelt wurden, gegen das Urheberrecht verstoße und die Organisationen vor der Veröffentlichung solcher Normen in den Leseplattformen hätten informiert werden müssen. Die offizielle Klageschrift wurde im Februar 2025 veröffentlicht.

Eine detaillierte Chronologie der Ereignisse sowie Zusammenfassungen der Urteile können interessierte Leser in unserem Beitrag „EuGH-Urteil: harmonisierte Normen im EU-Amtsblatt – Causa "Malamud" nachlesen.

 

2. Aktuelle Auswirkungen: Keine Aufnahme neuer internationaler Normen ins EU-Amtsblatt

Im Zuge von Recherchen zur Konformitätsvermutung der Normenreihe EN ISO 10218 (Industrieroboter) wurden auf den Seiten von CEN/CENELEC beide Normenteile mit der Information versehen, dass keine Listung im EU-Amtsblatt zur Maschinenrichtlinie 2006/42/EG erwartet wird. Dies folgte zur möglichen Schlussfolgerung, dass das Urteil des sog. HAS-Assessment negativ ausgefallen ist und eine Veröffentlichung im EU-Amtsblatt nicht vorgesehen ist.

Ein solches Urteil wurde jedoch von unserem Experten Dr. Matthias Umbreit, Vortragender in unserem Seminar "Sichere Roboter und Cobots" sowie Mitglied im ISO/TC „Robotics“, verneint. Demnach sei kein negatives Assessment bekannt. Stattdessen habe es „sehr viel Anstrengung gekostet, ein positives Assessment (im Jahr 2024) zu bekommen“.

Lt. Information des zuständigen Komitee-Managers von CEN ist die Nichtaufnahme der Norm mit der ISO/IEC-Klage gegen das EuGH-Urteil begründet. Aufgrund der Klage besteht ein Urheberrechtsproblem, weshalb die ESOs aktuell keinerlei EN ISO- bzw. EN IEC-Normen zur Veröffentlichung im EU-Amtsblatt vorschlagen können. Die Hauptpunkte der Klage waren demnach:

  1. Die EU-Kommission habe internationale Normen ohne Prüfung eines überwiegenden öffentlichen Interesses veröffentlicht (Rechtsfehler)
  2. Die Veröffentlichung internationaler Normen beeinträchtige das geistige Eigentum von ISO und IEC (Verletzung des geistigen Eigentums)
  3. Die Kommission habe ISO und IEC vor der Veröffentlichung der Dokumente nicht informiert (Verfahrensfehler)

Eine Anfrage bei CEN/CENELEC wird nur sehr vage beantwortet: Sinngemäß heißt es seitens CEN/CENELEC, alle Beteiligten seien um eine zeitnahe Lösung bemüht. Man hoffe, dass in Kürze nähere Informationen vorlägen. Fest steht jedenfalls, dass beispielsweise in den letzten Durchführungsbeschlüssen zur Änderung der harmonisierten Normen zur Niederspannungsrichtlinie sowie Maschinenrichtlinie keine internationalen ISO bzw. IEC-Dokumente veröffentlicht wurden.

Wie gravierend die Folgen der Klage sind, lässt sich derzeit noch schwer abschätzen. Die ISO/IEC-Klage wurde am 17.02. im Portal EUR-Lex veröffentlicht. Offenbar warten die Normungsinstitute und die Kommission noch eine weitere Urteilssprechung des EuGH in dieser Causa ab oder versuchen, die Inhalte der drei Hauptanklagepunkte auszuräumen.

In jedem Fall dürfte die bisher etablierte Architektur des europäischen Normenwesens Risse bekommen haben, da immer mehr europäische Normen auf Basis internationaler Standards aufgebaut sind. Die internen Prozesse von CEN/CENELEC begünstigen diese internationale Ausrichtung sogar: Die Ausarbeitung einer technischen Norm, die nicht auf einer bereits bestehenden internationalen Norm basiert, erfordert die einstimmige Zustimmung aller nationalen Normungsgremien. Somit wird die Normentwicklung durch die internationale Arbeit erleichtert.

In den letzten Jahren haben die ESOs auf Basis des Vienna Agreement (CEN und ISO)1 bzw. Frankfurt Agreement (CENELEC und IEC)2 enger mit den internationalen Normungsinstituten zusammengearbeitet, um so Doppelarbeit bei der Normenerstellung zu vermeiden, Zeit zu sparen und identische europäische und internationale Standards parallel zu entwickeln und zu veröffentlichen.

Sofern internationale Normen europäischen Rechts- und Marktanforderungen entsprechen und auch nicht-europäische Global Player diese umsetzen, wird gemäß den Inhalten der Vereinbarungen der Zusammenarbeit mit ISO bzw. dem IEC Vorrang eingeräumt.

3. Wie viele und welche Normen sind betroffen?

In absoluten Zahlen bedeutet dies beispielsweise, dass von den 800 Normen im EU-Amtsblatt zur Maschinenrichtlinie 2006/42/EG etwas über 200, also knapp ein Viertel, EN-ISO- bzw. EN-IEC-Normen sind, die auf internationaler Ebene erstellt wurden. In diesen Normen sind zahlreiche global genutzte Normen enthalten, die für Hersteller von Maschinen von sehr großer Bedeutung sind. Derzeit sind zahlreiche dieser häufig genutzten Normen von einer Revision betroffen, darunter die neue EN ISO 12100 (Risikobeurteilung und Risikominderung), die EN ISO 20607 (Betriebsanleitung für Maschinen) oder die EN ISO 13855 (Anordnung von Schutzeinrichtungen). Für diese Normen wäre nach aktuellem Stand der Ereignisse eine Veröffentlichung im EU-Amtsblatt nach Maschinenrichtlinie (und künftig nach neuer Maschinenverordnung) derzeit nicht absehbar.

Im Falle der Niederspannungsrichtlinie ist der Prozentsatz etwas geringer, von den 600 aktuell gelisteten Normen haben etwas über 60 einen ISO- bzw. IEC-Hintergrund3. Dieser Prozentsatz dürfte jedoch in zukünftigen Jahren deutlich höher liegen, da bisherige reine EN-Normen auch auf Basis der internationalen IEC-Norm publiziert werden. Beispiele hierfür sind die künftige prEN IEC 60204-1 (elektrische Ausrüstung von Maschinen), EN IEC 60669-2-1 (Schalter für Haushalt und ähnliche ortsfeste elektrische Installationen) oder die Normenreihe EN IEC 60269 (Niederspannungssicherungen).
 

4. Einordnung in der Praxis: EU-Amtsblatt, Konformitätsvermutung und Stand der Technik

Im europäischen Produktrechtssystem hat sich das enge Zusammenspiel von gesetzlichen Vorschriften wie EU-Richtlinien und EU-Verordnungen und harmonisierten europäischen Normen bewährt:

  • Richtlinien und Verordnungen definieren grundlegende Anforderungen
  • In den Vorschriften wird erwähnt, dass, sofern im jeweiligen EU-Amtsblatt Normen gelistet sind, davon ausgegangen werden kann, dass durch deren Anwendung die abgedeckten Anforderungen der Vorschrift ebenfalls erfüllt sind (=Konformitätsvermutungsprinzip)
  • EN-Normen werden seitens der EU-Kommission unter Einbeziehung sogenannter HAS-Consultants geprüft und im EU-Amtsblatt veröffentlicht
  • Adressaten von EU-Vorschriften profitieren von klareren und unter Mitwirkung der Industrie erstellten Vorgaben in Form von harmonisierten europäischen Normen mit Konformitätsvermutung.

Häufig unerwähnt bleibt, dass die EU-Vorschriften nicht nur die Anwendung der o.g. Normen erlauben, sondern auch die Einhaltung des Standes der Technik fordern.

Die neue Maschinenverordnung, wie auch die aktuelle Maschinenrichtlinie fordern z.B., dass die im Rechtsakt definierten grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen „verantwortungsbewusst angewandt werden, um dem Stand der Technik zum Zeitpunkt der Herstellung sowie technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen“.

Zur Erfüllung der Anforderungen und in weiterer Folge des Standes der Technik bieten die Inhalte harmonisierter Normen „einen guten Anhaltspunkt für den Stand der Technik zum Zeitpunkt ihrer Annahme“4. Da diese den Stand jedoch nicht kodifizieren, sondern lediglich zu einem bestimmten Zeitpunkt dokumentieren, bleibt deren Anwendung gemäß Produktsicherheitsrecht freiwillig. Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie in unserem ausführlichen juristischen Beitrag zum Begriff „Stand der Technik“.

Selbst wenn Normen diesen lediglich dokumentieren: Der Stand der Technik kann sich schneller ändern, als die Norm überarbeitet und – insbesondere und nun noch relevanter – mit Verspätung im EU-Amtsblatt veröffentlicht wird. Anwender sind daher mit der entsprechenden Nachfolgenorm oder einem vergleichbaren Dokument näher am Stand der Technik, auch ohne Konformitätsvermutung.

Anwender sollten sich daher nicht ausschließlich von der Konformitätsvermutung einer harmonisierten Norm im EU-Amtsblatt leiten lassen. Der Stand der Technik ist gesetzlich einzuhalten, die rechtliche Wirkung der Konformitätsvermutung wird oftmals überschätzt. Weitere Informationen zu diesem Thema inklusive einer juristischen Einschätzung finden Sie im Fachbeitrag „Normenaktualität vs. Konformitätsvermutung“.

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5. Fazit

In den vergangenen Jahren kam es wiederholt zu Verzögerungen bei der Veröffentlichung von harmonisierten Normen und deren Listung im EU-Amtsblatt. Ein Beispiel hierfür ist die Neuverhandlung des sogenannten HAS-Agreements, durch welches von April 2022 bis August 2023 keine neuen harmonisierten Normen im Amtsblatt veröffentlicht wurden.

Im aktuellen Fall ist die Lösung etwas schwieriger, da es sich um die Auslegung eines EuGH-Urteils bzw. dessen juristisches Nachspiel handelt. Zwar betonen CEN/CENELEC, dass man sich um eine schnelle Lösung bemüht, jedoch können sich juristische Auseinandersetzungen über mehrere Jahre hinziehen. Dies konnte man in der Vergangenheit auch im Fall „Malamud“ beobachten.

Für Anwender harmonisierter Normen empfiehlt es sich zu prüfen, ob neuere Normenausgaben andere und ggf. weiterführende Anforderungen stellen als die aktuell im EU-Amtsblatt veröffentliche Versionen. Rechtliche Pflicht ist die Erfüllung des Standes der Technik. Gelingt dies besser durch neuere, aber nicht im EU-Amtsblatt gelistete Normen, wäre eine Argumentation, warum die veraltete Norm herangezogen wurde, in aller Regel sehr schwer zu erbringen.


Fußnoten:
1 Siehe Informationen zum Vienna Agreement auf den Seiten von CEN/CENELEC

2 Siehe Informationen zum Frankfurt Agreement auf der DKE-Seite
3 Konsolidierte Listen: Übersicht zu harmonisierten Normen mit Konformitätsvermutung
Siehe Leitfaden für die Anwendung der Maschinenrichtlinie, Auflage 2.3, §162


Verfasst am: 19.08.2025

Autoren

Daniel Zacek-Gebele, MSc
Produktmanager bei IBF für Zusatzprodukte sowie Datenmanager für die Aktualisierung der Normendaten am Safexpert Live Server. Studium der Wirtschaftswissenschaften in Passau (BSc) und Stuttgart (MSc) im Schwerpunkt International Business and Economics.

E-Mail: daniel.zacek-gebele@ibf-solutions.com | www.ibf-solutions.com

 

Johannes Windeler-Frick, MSc ETH
Geschäftsführer der IBF Solutions. Fachreferent CE-Kennzeichnung und Safexpert. Vorträge, Podcasts und Publikationen zu unterschiedlichen CE-Themen, insbesondere CE-Organisation und effizientes CE-Management. Leitung der Weiterentwicklung des Softwaresystems Safexpert. Studium der Elektrotechnik an der ETH Zürich (MSc) im Schwerpunkt Energietechnik sowie Vertiefung im Bereich von Werkzeugmaschinen.

E-Mail: johannes.windeler-frick@ibf-solutions.com | www.ibf-solutions.com
 


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